"Rotel Tours" -
viel Welt für wenig Geld.
 
Entweder haben sie so leisen Sex, dass man sie nicht hört, oder sie haben gar keinen. Ich tippe auf gar keinen, und als ehemaliger "Rotel"-Reisender weiß ich, wovon ich rede. Wie sollten sie auch: In der Kabine über ihnen schläft Familie Müller aus Wanne-Eickel, beide um die 60 und beide brutale Schnarcher. Eine Etage unter ihnen liegt das pensionierte Lehrerehepaar, sie leidet an Schlaflosigkeit, er an einer schwachen Blase. Rechts, hinter einer millimeterdünnen Wand, befindet sich die Einzelkabine eines alleinreisenden Dreißigjährigen mit Spannerblick, links schlafen die beiden Stimmungskanonen aus dem Sauerland, die selbst noch aus dem langweiligsten Thema eine Büttenrede zaubern könnten. Vermutlich würden sie ihr Frühstück am nächsten Morgen mit der lautstark vorgetragenen Frage beginnen: Wer schläft eigentlich in Kabine X?
 
Eine Reise mit "Rotel Tours" ist die Negation des Körpers zugunsten des Geistes - auf diese knappe Formel lässt sich die Ideologie des Busunternehmens aus Tittling im Bayerischen Wald vielleicht am besten reduzieren. Nicht nur der spezielle Lustgewinn bleibt bei den Bayern auf der Strecke, auch der allgemeine ist eher gering, soweit er die menschlichen Grundbedürfnisse betrifft. Für diejenigen, die "Rotel" - das "Rollende Hotel" - nicht kennen: Vorneweg fährt ein Bus, dahinter ein Anhänger, der tagsüber geschlossen ist, der sich für die Nacht aber durch das Aufklappen seiner Seitenwände in besagtes Hotel verwandeln lässt - 14 "patentierte Rotelkabinen" nebeneinander, jeweils drei übereinander, am Kopfende jeder Kabine ein winziges Fenster und am Fußende ein Vorhang, der ebenso vor Kälte wie vor neugierigen Blicken schützt und damit ein Minimum an Intimsphäre gewährt. Auch die anderen Grundbedürfnisse der Reisenden werden eher spartanisch abgedeckt, so das Essen, das häufig aus mitgeführter Dosenkost besteht und damit den Gourmet-Level einer lebenserhaltenden Nahrungsaufnahme besitzt, oder die Körperhygiene, die Duschen etwa, die der Reisende erhofft, aber nie zwingend erwartet. Urlaub auf Jugendherbergsniveau mit Nachkriegskomfort, so könnte man spitz formulieren. Aber eine solche Fomulierung würde nur die eine Seite abdecken, den Körper. Die andere Seite ist der Geist. Und was diese Seite anbelangt, so ist "Rotel Tours" geradezu genial!
 
 
Auf dem Jakobsweg nach Santiago in 20 Tagen für 1450 €. - Klassisches Italien in 14 Tagen für 1060 €. - 22 Tage Alaska für 3150 € ... Am Ende des Zweiten Weltkriegs lag Deutschland in Trümmern, der Verkehr war zusammengebrochen, und weil er eine Chance für ein Geschäft witterte, richtete der damals 17jährige Georg Höltl eine Busverbindung von Tittling nach Passau ein. Fünf Jahre später warb er für Völkerverständigung und organisierte Versöhnungsreisen in die Nachbarländer, und da es viel zu versöhnen gab, wurden die Reisen ein voller Erfolg. Außer wenn es regnete oder wenn Kälte in die Schlafzelte kroch - dann sank die Stimmung, und deshalb sann der Jungunternehmer auf Abhilfe. Was dabei herauskam, war jener oben beschriebene, unter der Nummer 1223705 zum Patent angemeldete Anhänger, der zum Grundstein seines Erfolgs wurde und der aus seinem Unternehmen in den folgenden Jahrzehnten den fünftgrößten Busreiseveranstalter Deutschlands machte. Dass die Menschen reisen wollten, war das Credo von Höltl, und mit dieser Überzeugung hatte er ins Schwarze getroffen. Ich erinnere mich noch gut an eine Mitbewohnerin unseres Hauses, die gegen Ende der 1950er Jahre an den Gardasee fuhr und wie neidisch die anderen Mieter seinerzeit waren. Hätten sie ebenso viel Geld gehabt wie die Glückliche, hätten die meisten von ihnen gewiss eine ebensolche Reise unternommen. Aber sie hatten es nicht. Und genau zu dieser Zeit trat Höltl mit seiner Idee von dem Rollenden Hotel auf den Plan, billiger als jedes gewöhnliche Hotel und zugleich angenehmer als jedes Zelt (jedenfalls für die meisten), frei nach dem Motto: wenig Geld für viel Welt. 1959 startete er seine erste Fahrt auf dem Landweg von München über die Türkei nach Jerusalem - viele Grenzen, viele Sprachen und etliche Währungen, gewiss keine Expedition im klassischen Sinn, aber dennoch eine Menge Exotik. Noch mehr davon drei Jahre später, 1962, als er sein Rollendes Hotel auf dem Landweg nach Indien schickte (einschließlich Rückfahrt 81 Tage), oder weitere sieben Jahre später, als einer seiner Busse erstmals die Sahara durchquerte.

Die Bilder stammen von folgenden Reisen: Sahara 1980; Türkei l981; Italien 1992;

Andalusien und Portugal 1996; Südengland und Wales 1997

 
 "Rotelreisen sind Studienreisen auf Campingbasis", schreibt das Unternehmen auf seiner Website und: "Eine gewisse Liebe zum Camping gehört dazu." Stimmt. Wer das einfache Leben nicht mag, wer sich über eine kalte Dusche drei Tage lang aufregen kann oder wer am liebsten abends mit einem Glas Rotwein im Bett sitzt und liest, der ist hier fehl am Platz. Übernachtet wird in der Regel auf Campingplätzen, gelegentlich bei Hotels, in denen Zimmer angemietet werden, um den Reisenden ein Minium an körperlicher Hygiene zu ermöglichen. Oft stehen die Busse aber auch nur einfach in der Landschaft - ein Umstand, der indes kein Makel ist, sondern ganz im Gegenteil für viele Reisende ein wichtiger Grund, sich überhaupt auf eine solche Reise einzulassen. "Unvergesslich", schreibt Rotel, "sind Übernachtungen in der Wüste, in den Weiten der mongolischen Steppe, in der Wildnis Patagoniens oder unter dem Sternenhimmel der Serengeti." Zu Weihnachten auch schon mal mit einem Tannenbäumchen, wie ich aus eigenem Erleben hinzufügen kann (siehe Bericht 39).
 
7 Tage Burgund für 580 €. - Wandern in Kappadokien, 15 Tage für 1390 €. - 26 Tage Südamerika-Feuerland für 3240 € ... Ist am Ende eines Fahrttages ein Übernachtungsplatz erreicht, stehen jedesmal die selben Aufgaben an: Schlafwagen herrichten, Bänke und Tische aufstellen, Essen vorbereiten, entweder die mitgeführte Dosenkost oder falls man tagsüber einkaufen konnte, etwas Frisches. Für die Mahlzeiten ist der Fahrer zuständig, obwohl der mit seinem eigentlichen Job bereits alle Hände voll zu tun hat, was ihn zum wichtigsten Mann jeder Tour macht - wichtiger als der Reiseleiter, der vornehmlich für Informationen während der Fahrt sorgt. "Unsere Fahrer kommen ausschließlich aus dem deutschsprachigen Raum, die meisten sogar aus der Heimatregion von Rotel Tours." Aus dem Bayerischen Wald also, bodenständige, urige Typen, für uns "Saupreißn" mitunter schwer zu verstehen ("Wuist a oa oda zwoa oar?"), aber freundlich und kompetent und vor allem niemals aus der Ruhe zu bringen, sei es im Gassengewirr anatolischer Kleinstädte oder im Sand der Sahara, wenn der Bus fest steckt und sich drei Dutzend Augenpaare erwartungsvoll auf den Fahrer richten.
 
 
Das Durchschnittsalter der Rotel-Reisenden kenne ich nicht, aber ausgehend von eigenem Erleben dürfte es irgendwo um die 50 liegen. Lehrer sind überrepräsentiert, was für die übrigen Reisenden mitunter recht anstrengend ist. Auffällig viele Teilnehmer sind nicht das erste Mal mit dem Unternehmen unterwegs. Typisch ein Gesprächsverlauf wie dieser: "Also damals in Brasilien war das bei uns so ...", sagt eine 70jährige, worauf eine Altersgenossin antwortet: "Bei uns in Ladakh war das ganz anders, und im Jahr davor in Südafrika da hatten wir ..." Was die Umsitzenden dazu bringt, nunmehr auch ihre Erfahrungen beizusteuern - aus der Mongolei, aus Indien und von den Philippinen, ein wildes Kreuz und Quer auf dem Globus, als handele es sich lediglich um Fahrten in die nächste Umgebung. Zehn Touren kommen da bei manch einem der Reisenden schnell zusammen, mitunter auch 20, 30 oder noch mehr. Ich erinnere mich an einen Spruch, den wir bei solchen Gelegenheiten häufig gehört haben: "Wer das erste Mal mit Rotel reist, der tut das entweder nie mehr oder immer wieder." Stimmt nicht ganz, wir selbst sind der Beweis, dass es auch anders sein kann. Aber grundsätzlich ist an diesem Spruch etwas dran.

Seit seiner Gründung hat "Rotel Tours" sein Angebot ständig erweitert. Neben den traditionellen Reisen gibt es heute Rad- und Hotelreisen, eine Schiffsreise entlang der türkischen Südküste sowie Fahrten speziell für Jugendliche und junge Erwachsene. Auch der Fahrzeugpark hat sich verändert. Die ursprüngliche Kombination Bus mit Anhänger wurde ergänzt durch Busse mit integrierten Schlafkabinen, was neben den fahrtechnischen Vorteilen eine Halbierung der Gruppengröße zur Folge hat.

8 Tage Rom für 590 €. - Wildblumenblüte im Namaqualand, 16 Tage für 2150. - 22 Tage durch Nordindien und Nepal für 2790 € ... Sechs Mal war ich mit "Rotel" unterwegs - würde ich die Firma empfehlen? Ja und nein, es kommt auf den Reisenden an und auf das, was er erwartet. Wer mit relativ wenig Geld viel von der Welt sehen will, wer auf Sicherheit Wert legt, einen Mangel an Komfort leicht wegstecken kann und wem das Reisen in einer Gruppe nichts ausmacht, für den ist "Rotel Tours" eine gute Wahl. Wer mehr Komfort sucht und ihn bezahlen kann, der ist bei Studiosus & Co. vermutlich besser aufgehoben. Und wer das Reisen in einer Gruppe scheut, der - das versteht sich - sollte von Gruppenreisen natürlich grundsätzlich Abstand nehmen. Für mich war vor allem die ständige Limitierung der Zeit ein Problem, nach dem Motto: Zwanzig Minuten können Sie sich jetzt bei dieser Sehenswürdigkeit umsehen, danach treffen wir uns wieder am Bus. Wobei ein solches Procedere eine einfache Rechnung ist: Je mehr Orte angesteuert werden, um so mehr bekommen die Reisenden zu sehen, aber um so weniger Zeit bleibt für jeden einzelnen Ort. Es ist ein Dilemma, das sich nicht auflösen lässt, weder für "Rotel Tours" noch für jedes vergleichbare Unternehmen. Für uns war es der Grund, uns von dem Rollenden Hotel zu verabschieden und alle weiteren Reisen (so wie schon die meisten zuvor) in die eigenen Hände zu nehmen. Aber - und das sage ich mit Nachdruck: Wir haben nicht eine einzige unserer Reisen mit "Rotel" bereut! Und was das eingangs erwähnte Thema anbelangt: Selbst bei einer Reise von 22 Tagen ist man ja immer noch 343 Tage zu Hause ....
 

Manfred Lentz