Von Tannen und Pannen
Weihnachten und Sylvester in der Sahara. Algerien 1980 und 1989
 
Vermutlich haben sich die Schlangen und Skorpione die Augen gerieben und gedacht: "Was ist das denn?", als ein langes Gefährt von der Straße her kommend durch den Sand pflügte und nach kurzer Fahrt anhielt. Und danach sind sie vermutlich in ihre Löcher gekrochen und haben sich nicht mehr hervorgewagt. War es doch auch allzu ungewöhnlich, was an jenem 24. Dezember des Jahres 1980 kurz vor Anbruch der Dunkelheit ihren Wüstenfrieden gestört hatte. Zufällig vorbeiziehende Nomaden hätten wohl an eine Fata Morgana gedacht. Und in der Tat war es höchst merkwürdig, was hier zu sehen war: ein Bus, dahinter ein Anhänger, etwa ebenso lang und ein wenig höher als der Bus, die eine Seite des Anhängers geschlossen, auf der anderen Seite etliche Fenster, drei übereinander und vierzehn in jeder Reihe. Kaum war das seltsame Gefährt zum Stillstand gekommen, als drei Dutzend Männer und Frauen dem Bus entstiegen und einige von ihnen sich an dem Anhänger zu schaffen machten, einer ausgeklügelten Konstruktion: Der obere Teil der bisher geschlossenen Seitenklappe wurde angehoben, der untere abgesenkt und auf Stützen gestellt, eine Zeltplane wurde zwischen beide Klappen gehängt, und schon waren die Voraussetzungen für eine Übernachtung gegeben. Was hier stand, war ein rollendes Hotel.
 
Rotel ist die Abkürzung für dieses rollende Hotel, und sie steht für das Busunternehmen "Rotel Tours" aus dem Bayerischen Wald, das Reisen in alle Welt anbietet, mit wenig Komfort, aber zu erschwinglichen Preisen. Und das erfolgreich seit mehr als 50 Jahren. Ein Unternehmen, dem ich mich wegen seiner Originalität in einem späteren Bericht ausführlicher widmen werde. Hier soll es um etwas anderes gehen: Da der Tag unserer Ankunft an diesem entlegenen Wüstenfleck Heiligabend war, und da "Rotel Tours" wusste, was Deutsche an diesem Abend schätzen, hatten sie vorgesorgt. Einige Reisende staunten, anderen grinsten, als der Fahrer aus der hintersten Ecke seines Bus-Kofferraums eine Tanne hervorholte und sie mit einem urbayerischen "Jetz kanna kemma, der Heilige Obend!" in den algerischen Sand rammte. An Lametta war ebenfalls gedacht, und so saßen wir alle schon bald in Jacken und Decken gehüllt um unser geschmücktes Bäumchen herum, nachdem wir uns zuvor mit einer heißen Suppe gewärmt hatten, und feierten den Heiligen Abend inmitten der Sahara.
 
 
Am nächsten Morgen hatten wir ein Problem. Als der Fahrer den Motor des Busses anließ und Gas gab, heulte der Motor ein paar Mal auf, die Räder drehten sich im Sand, und das war's. Der Bus steckte fest - unsere Verbindung zur Zivilisation, in die wir nach Ablauf unserer Tour sicher zurückkehren wollten! Erschrecken zeichnete sich auf einigen Gesichtern, ein paar Männer versammelten sich um die festgefahrenen Räder und übertrumpften einander mit fachmännischen Ratschlägen, der Fahrer brachte ein selbstbewusstes "Des schaff ma scho!" hervor. Ohne in Einzelheiten zu gehen - nach Ablauf einer guten Stunde war es einer Kombination von Schaufeln, Sandblechen und menschlicher Muskelkraft gelungen, den Bus wieder flott zu machen. Ebenfalls nicht ganz einfach gestaltete sich anschließend das Ankoppeln des Anhängers, aber irgendwann war auch dieses Problem gelöst, und der Bus mitsamt seinem Anhänger befand sich wieder dort, wo er hingehörte: auf der Straße. Zurück blieben eine Tanne im Sand - die Blicke vorbeikommender Nomaden hätte ich allzu gerne gesehen! - und Schlangen und Skorpione, die vermutlich erleichtert aufatmeten, dass der Spuk endlich vorbei war.
Neun Jahre später. Meine erste Begegnung mit der Sahara im Jahre 1980 hatte Spuren hinterlassen. In mir war der Wunsch entstanden, die Wüste auch einmal ohne drei Dutzend Begleiter zu erleben. Also kauften wir uns zu zweit einen VW-Bus und fuhren los. Frankreich, Spanien, Marokko, über die Grenze nach Algerien, und als der Kalender den 31. Dezember anzeigte, waren wir bereits ein gutes Stück weit in der Wüste. Mit anbrechender Dunkelheit machten wir uns auf die Suche nach einem Übernachtungsplatz. Dicht bei der Straße wollten wir nicht stehen, wir fühlten uns wohler in Deckung. Also fuhren wir von der Straße ab und hielten Ausschau. Kurz darauf, in einem Wadi, einem ausgetrockneten Flussbett, blieben wir stecken. Nicht, dass wir hier hatten übernachten wollen. In Wadis übernachtet man nicht. Auch in der Sahara regnet es gelegentlich, und immer wieder geschieht es, dass Flussbetten sich rasch auffüllen und das Wasser alles hinwegschwemmt, was sich ihm in den Weg stellt, also auch Reisende, die so leichtsinnig waren, hier zu nächtigen. Ertrunken in der Wüste - kaum zu glauben, aber in der Tat sind so manche Todesfälle auf ein solches Ereignis zurückzuführen. Wir indes wollten bzw. mussten durch das Wadi lediglich hindurchfahren, und nun also steckten wir im Sand. Und der Himmel wurde immer dunkler. Wir riefen uns in Erinnerung, was wir zur Vorbereitung unserer Reise in einschlägigen Büchern gelesen hatten, griffen zur Schaufel, gruben die Räder des Wagens frei und legten unsere Sandbleche davor. Dann setzte ich mich ans Steuer. Klar, dass ich nervös war, schließlich war es unsere erste Aktion dieser Art. Ich hielt die Luft an, legte den Gang ein, gab gut dosiert Gas - und siehe da, es funktionierte: Die Räder griffen auf den Blechen, und im Nu war der Wagen aus dem Sand heraus und hatte wieder festen Boden unter den Rädern. Für routinierte Sahara-Fahrer eine Aktion, die nicht der Rede wert gewesen wäre. Für uns als blutige Anfänger aber Grund genug, uns gegenseitig zu beglückwünschen.
An einer Stelle, die uns zusagte, richteten wir uns für die Nacht ein. Als es finster geworden war, entdeckten wir in einiger Entfernung ein Feuer. Vielleicht Nomaden, dachten wir. Und weiter dachten wir: Hoffentlich sind es freundliche Nomaden, denn ein wenig mulmig war uns schon angesichts dieser unbekannten Nachbarschaft. Wir schalteten unser Radio ein und stellten erfreut fest, dass wir Empfang hatten. RIAS Berlin mitten in der Sahara, die neuesten Nachrichten von der gerade erst gefallenen Mauer. Dazu gab es ein kleines Extra, das wir für diesen Tag mitgenommen hatten. Keine Tanne wie damals, schließlich war nicht Weihnachten, sondern Sylvester - nein, eine Flasche Champagner. Draußen war es kalt, am Nachthimmel glitzerten tausend Sterne, während wir zufrieden auf unsere Reise anstießen, von der wir zu diesem Zeitpunkt die längste Zeit noch vor uns hatten. Nur auf das neue Jahrzehnt anzustoßen und darauf, dass die Dinge in Deutschland eine positive Entwicklung nehmen sollten, gelang uns nicht mehr, denn wenige Minuten vor dem Beginn der 90er Jahre fielen wir in einen champagner-seligen Schlummer.