Cristo Redentor
Die Christusstatue ist eines der Highlights von Rio. Brasilien 2014
 
Wir haben uns geirrt. Wie selbstverständlich hatten wir angenommen, die riesige Christusstatue von Rio de Janeiro sei die größte ihrer Art weltweit. Aber das ist keineswegs der Fall. Mit einer Höhe von 38 Metern inklusive Sockel belegt sie in der Rangliste der einschlägigen Statuen gerade mal den siebten Platz. Sechs Meter größer und damit auf Platz eins liegt der erst vor wenigen Jahren eingeweihte Pomnik Chrystusa Króla im polnischen Swiebodzin. Allerdings wird er diesen Rekord nicht mehr lange halten, denn ein Christus in Kolumbien wird mit stattlichen 60 Metern noch größer sein, ein unmittelbar neben ihm liegender zweiter Christus soll gar 80 Meter messen. Beide entstehen zur Zeit in einem Vergnügungspark, in dem die Besucher nach der Fertigstellung beider Statuen nicht nur beten können, sondern wo sie vor allem bespaßt werden sollen. "Wir werden den größten Christus der Welt haben", kommentierte der Bauherr sein Projekt auf eine Weise, als gelte es einen Rekord aufzustellen wie seinerzeit beim biblischen Turmbau zu Babel. Aber mögen all diese und noch einige weitere Statuen den Christus von Rio in puncto Größe auch vom Sockel stoßen - der bekannteste ist der allemal. Spätestens seit der Fußballweltmeisterschaft 2014 und den Olympischen Spielen im vergangenen Jahr, als sein Bild in jeder Fernsehübertragung zu sehen war, dürfte er sich endgültig im Bewusstsein nahezu der gesamten Menschheit eingeprägt haben. Wobei vermutlich nur die allerwenigsten seinen Namen kennen: Cristo Redentor heißt er = Christus, der Erlöser. Für die meisten ist er aber ganz einfach "der Christus".
 
 
Auch wir kennen den Namen nicht, als wir uns auf den Weg zu ihm machen. "Christus", nennen wir dem Taxifahrer als Ziel, was er mit einem fragenden Blick beantwortet. Wir sind irritiert. Sollte er diese Top-Sehenswürdigkeit etwa nicht kennen? Wir wiederholen den Namen, danach noch mal und noch mal, jedes Mal mit verschiedenen Betonungen - so lange, bis er endlich verstanden hat. "Ah, Corcovado", sagt er, und noch während er das Wort ausspricht, fährt er los. Corcovado - irgendwo ist mir dieser Name schon einmal untergekommen, deshalb schlage ich im Reiseführer nach. Christus, so lese ich dort, heißt auf Portugiesisch nicht Christus sondern Cristo, und Corcovado ist der Berg, auf dem er steht - 710 m hoch, und wegen seiner Form Corcovado genannt, "der Bucklige". Der Weg von unserem Hotel am Strand von Copacabana ist nicht weit, rund 20 Minuten bis zur Zahnradbahn, die uns hinaufbringen soll. Stolze 130 Jahre ist diese Bahn bereits alt, eine der ältesten Zahnradbahnen weltweit. "Two tickets, please", sage ich zu der Frau in dem Kassenhäuschen. Sie mustert uns und fragt dann etwas, was wir nicht verstehen, da wir außer "bom dia" und "obrigado" keine Silbe Portugiesisch beherrschen. Die Frau zeigt auf ein Schild. Personen ab einem Alter von 60 Jahren, so steht es dort in mehreren Sprachen geschrieben, zahlen nur den halben Fahrpreis. Mir fallen die Toiletten am Strand von Copacabana ein: Wer über 60 ist, heißt es dort ebenfalls mehrsprachig, der darf an diesem Ort sein Geschäft kostenlos verrichten. Pinkeln for nothing sozusagen. Gelobtes Brasilien, ein Land mit einem Herz für die Alten! Ich nicke der Frau in dem Kassenhäuschen zu, zum Zeichen, dass ich verstanden habe, und lege für Karin und mich zusammen den Fahrpreis eines "normalen" Erwachsenen hin. Gleich darauf zwängen wir uns mit etlichen weiteren Touristen in die Zahnradbahn und zuckeln in gemächlichem Tempo bergaufwärts. Die Fahrt führt durch den drittgrößten Stadtpark der Welt, einen 40 Quadratkilometer großen Regenwald mitten in der Zwölfmillionenstadt, in dem es neben einer vielfältigen Flora (Mango, Mahagoni, Palisander und mehr) zugleich eine reiche Tierwelt gibt, darunter Kapuzineraffen, Nasenbären und Gürteltiere, von denen wir aus unserem lärmenden Gefährt allerdings kein einziges Exemplar zu Gesicht bekommen.
Aussteigen, dann ein letztes Stück laufen, und schon stehen wir zu Füßen des Erlösers. Doch noch bevor wir den Kopf heben, um ihn in Augenschein zu nehmen, fällt unser Blick auf die Stadt unter uns, und der weltberühmte Christus wird erst einmal zur Nebensache. Was für eine überwältigende Aussicht, die sich uns bietet! Wie hingegossen zwischen Hügeln unterschiedlicher Höhe erstreckt sich Rio, an mehreren Stellen ziehen sich Favelas die Hänge hinauf, die Quartiere der Armen, davor befinden sich die Viertel mit den hohen Häusern, in denen die übrigen wohnen und die bis zu den Stränden von Copacabana und Ipanema reichen, wie hingestreut liegen kleine Inseln im Meer und dahinter - im dunstigen Licht dieses Tages schlecht zu erkennen - entdecken wir einige weitere Städte mit Stränden, die denen von Rio kaum nachstehen dürften. Schließlich nicht weit von uns entfernt der Zuckerhut, jener andere berühmte Berg der Stadt, der wie der Corcovado als eine Top-Location gilt. Ob Tourismus-Experten den Blick auf Rio als den schönsten Blick auf eine Stadt weltweit bezeichnen würden, weiß ich nicht - für uns jedenfalls ist er der schönste, den wir in unserem an Reisen wahrlich nicht armen Leben bisher kennengelernt haben. Ein Traum von einem Anblick!
 
Ein Traum, zu dem wir - das sei an dieser Stelle erwähnt - nur zufällig gekommen sind, ist Rio für uns doch ein "Abfallprodukt" von einer ganz anderen Reise. 18 Tage mit einem Containerschiff von Hamburg nach Brasilien war die eigentliche Reise, und mit dem Festmachen im Hafen von Santos war diese zu Ende. Doch wenn wir schon einmal so weit von zu Hause entfernt sind, so hatten wir uns gesagt, dann sollten wir noch ein wenig von dem Land mitnehmen, in dem wir gerade sind. Und da Santos nicht weit von Rio entfernt liegt, war unsere Wahl eben auf Rio gefallen. Eine Woche Zeit, um uns die Highlights der Stadt anzusehen, insbesondere die Strände von Copacabana und Ipanema sowie den Christus, dem wir an diesem Tag einen Besuch abstatten. Cristo Redentor, der nun - nachdem wir die Aussicht vom Corcovado ausgiebig genossen haben - vor uns steht, oder richtiger: der schräg über uns steht, denn obwohl die Statue nicht die größte von allen Christusstatuen ist, so ist ihre Höhe dennoch sehr eindrucksvoll. Sie ist im Stil des Art Déco gefertigt, das Gesicht des Erlösers strahlt Ruhe aus, seine Arme zusammen mit dem schlanken Körper bilden ein Kreuz, seine Geste scheint zu sagen: Kommt alle her zu mir, die ganze Welt will ich umarmen!
 
 
Da die Zahl der Fotos vom Corcovado sehr begrenzt ist, hier noch einige Bilder mit Straßenszenen aus Rio.
Bis zu 4.000 Besucher folgen Tag für Tag diesem Ruf - Einheimische und Touristen, Hochzeitspaare, die an diesem einzigartigen Ort den Bund fürs Leben schließen wollen, Eltern mit Täuflingen, Chöre, die zum Lob des Allmächtigen ihre Lieder singen. Seit 1931 blickt Cristo Redentor auf Rio, seit einer Zeit also, als die Geschäftemacherei mit den möglichst großen Christusstatuen - die möglichst viele Pilger anziehen und möglichst viel Geld in die Kassen ihrer Erbauer spülen sollen - noch in der Zukunft lag. Als Denkmal zum hundertjährigen Jubiläum der brasilianischen Unabhängigkeit war die Statue geplant, ein teures Projekt, das beinahe am Geld gescheitert wäre, hätten nicht die Erzdiözese der Stadt, der Vatikan und Frankreich die Finanzierung übernommen. Gelder von privaten Sponsoren gab es nicht, glücklicherweise vielleicht, sonst hätten diese auf dem Christus womöglich noch Werbebanner für ihre Produkte platziert. Inzwischen lässt sich die Statue aus ihrer Stadt gar nicht mehr wegdenken. Was der Eiffelturm für Paris und das Brandenburger Tor für Berlin, das ist der Christus auf dem Corcovado für Rio. Darüber hinaus hat ihm die Kirche den Status eines offiziellen Wallfahrtsortes verliehen, und in die Liste der modernen sieben Weltwunder wurde er auch aufgenommen. Unter den zahllosen Besuchern Rios gibt es vermutlich kaum welche, die nicht einen Abstecher zu diesem Wahrzeichen machen, die es nicht auf Fotos bannen oder als Miniaturausgabe mit nach Hause nehmen, sei es in originalem Weiß oder in Lila, Grün oder in anderen scheußlichen Farben. Ein Gedanke hat sich mir allerdings aufgedrängt, nachdem ich den Christus eine Weile betrachtet habe: Warum, so frage ich mich, schaut er eigentlich so teilnahmslos drein, so völlig gleichgültig angesichts des einzigartigen Ensembles, das ihn umgibt? Ein wenig positive Emotion hätte ihm gut angestanden, finde ich. Aber ach, was hadere ich da - schließlich handelt es sich hier nicht um irgendeinen Staatsmann, einen Feldherrn oder Entdecker. Der hier steht, ist Christus.
 
Manfred Lentz (November 2017)
 
 
Über Rio und die Fahrt mit dem Containerschiff "Cap San Lorenzo" gibt es noch weitere
Berichte auf meiner Webseite. Auf der Seite "Länder / Brasilien" sind sie alle aufgelistet. 
 
 
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