Santiago de Cuba -
Stadt mit Geschichte. Kuba 2015 (Teil 1)
 
Sein Name ist so lang, wie sein Ansehen im heutigen Kuba groß ist: Carlos Manuel de Céspedes y López del Castillo. Beruf: Großgrundbesitzer und Zuckerbaron. Aber einer der ungewöhnlichen Art. Der gegen den Stachel löckte, sowohl was die damaligen Herren Kubas anbelangte, die Spanier, als auch die Sklaven. Im Jahr 1868 rief er seine Landsleute zum Kampf gegen die Kolonialmacht auf, und als wäre das noch nicht genug, ließ er außerdem alle seine eigenen Sklaven frei und forderte sie auf, sich dem Kampf anzuschließen. Als sein Sohn während der folgenden Auseinandersetzungen von spanischen Soldaten gefangen wurde und diese Céspedes dessen Freilassung gegen die Einstellung der Kämpfe anboten, lehnte er ab mit den Worten: "Alle Kubaner sind meine Söhne." Womit er das Todesurteil für seinen eigenen Sohn sprach. 1874 fiel Céspedes im Kampf. Seither gilt er auf der Insel als der Begründer der kubanischen Nation und genießt als "Vater des Vaterlandes" hohes Ansehen. Verständlich also, dass der zentrale Platz von Santiago de Cuba seinen Namen trägt.
 
Vier Wochen sind wir auf Kuba mit dem Auto unterwegs, und natürlich steuern wir auf dieser Rundreise auch Santiago an. Die Stadt ist mit einer halben Million Einwohner nach Havanna die zweitgrößte der Insel, sie liegt am Meer, ist hügelig und besitzt eine herrliche Umgebung. Gleichzeitig ist sie laut, nervt mit vielem Verkehr, insbesondere mit unzähligen Motorrädern. Und haben wir auf unserer Reise in allen bisherigen Städten die Kubaner als Menschen mit einer eher ruhigen und ausgeglichenen Wesensart kennengelernt, so empfinden wir diese hier als eher hektisch und auch ein wenig aggressiv. Als wir die Stadt nach zwei Tagen wieder verlassen, sind wir froh darüber, was allerdings keineswegs heißt, dass wir ihr nichts hätten abgewinnen können. Im Gegenteil - Santiago hat viel Sehenswertes zu bieten. Gleich um die Ecke von unserem Hotel ging es los, auf dem erwähnten, dem großen Freiheitskämpfer gewidmeten Platz mit dem Namen Parque Céspedes.
 
 
Es gibt vermutlich nicht viele Plätze in der Welt, die die Geschichte eines Volkes so umfassend widerspiegeln wie dieser. Beginnen wir mit dem ältesten Gebäude, das zugleich das älteste des Landes ist, der "Casa Diego Velázquez". Ob der spanische Eroberer und erste Gouverneur Kubas hier tatsächlich gewohnt hat, ist umstritten. Fakt ist auf jeden Fall, dass das Anfang des 16. Jahrhunderts errichtete Gebäude ein architektonisches Juwel ist. Heute ist es ein Museum und präsentiert den Besuchern nicht nur eine Sammlung wertvollen Mobiliars aus vergangenen Jahrhunderten, sondern begeistert vor allem durch seine architektonische Gestaltung mit dem schattigen Innenhof, den Räumen mit den dunklen Holzdecken, den Bodenfliesen in Rot- und Brauntönen und den holzvergitterten Fenstern, von denen aus die Frauen des Hauses ohne selbst gesehen zu werden das Leben auf der Straße beobachten konnten. Spanische Kolonialarchitektur vom Feinsten.
 
Nicht spanischen Ursprungs ist die Kathedrale mit den zwei Türmen und dem Engel an der benachbarten Seite des Platzes. Sie wurde erst einige Jahre nach dem Abzug der Spanier aus Kuba (1898) fertiggestellt, allerdings befindet sie sich genau an der Stelle, an der diese Vorgängerbauten errichtet hatten. Also ebenfalls ein Ort, an dem Stadtgeschichte geschrieben wurde. Ein drittes Gebäude, das ich im Zusammenhang mit dem Parque Céspedes erwähnen möchte, liegt nicht direkt am Platz, ist aber nicht weit von ihm entfernt. Anders als das Haus des Velázquez oder die Kathedrale dürfte es den meisten etwas sagen, nicht das Gebäude selbst, wohl aber der Name, den es trägt: Museum Bacardi. Im Jahr 1899 wurde es von dem Schriftsteller und damaligen Bürgermeister der Stadt Emilio Bacardi Moreau gegründet, der gleichzeitig Inhaber jener Rumbrennerei war, die in den folgenden Jahrzehnten den internationalen Markt erobern sollte. Heute ist die Firma mit ihren alkoholischen Getränken in über 100 Ländern präsent, und ihr Rum gehört zu den meistverkauften Spirituosenmarken der Welt. Nachdem die Familie Bacardi zunächst den Kampf der Revolutionäre um Fidel Castro gegen den von den USA protegierten Diktator Batista unterstützt hatte, geriet sie bald darauf in Opposition zu der neuen Regierung. Wie viele andere Unternehmen wurde auch die Firma Bacardi entschädigungslos enteignet, worauf sich ein Großteil der Familie in die Vereinigten Staaten absetzte, wo er in der Folgezeit bei der US-amerikanischen Embargopolitik gegen Kuba eine wichtige Rolle spielte. Angesichts des unter Präsident Obama begonnenen Bröckelns dieser Politik wird darüber spekuliert, ob eine Rückkehr der Marke Bacardi zu ihren kubanischen Wurzeln vorstellbar wäre. Vielleicht ist ihr dabei ja ihr eigenes Logo behilflich, die Fledermaus, die auf Kuba als Glücksbringer gilt.
Nicht spekulieren muss man über eine andere Frage: ob die Normalisierung der Beziehungen zwischen den USA und der Karibikinsel zu einem weiteren Anstieg des Kuba-Tourismus führen wird. Bereits seit Monaten wächst er kräftig, und die Entwicklung dürfte sich in den kommenden Jahren noch weiter beschleunigen. Eine gute Perspektive also für die dortige Hotellerie, nicht zuletzt für das "Casa Grande", womit wir wieder zum Parque Céspedes zurückgekehrt wären. Das vor hundert Jahren errichtete Vier-Sterne-Hotel befindet sich gegenüber dem Haus des Velázquez, und es punktet nicht zuletzt mit seiner Aussichtsterrasse. Mit einem Fahrstuhl fahren wir nach oben, lassen uns zwei "Cristal" bringen, das leichte, auf Kuba gebraute Bier, und setzen uns an den Rand der Terrasse. Welch herrlicher Blick - der Platz zu unseren Füßen, die zur Bucht hin abfallende Stadt und die Berge dahinter, auf der linken Seite die ganz in Weiß, Grau und Hellblau gehaltene Kathedrale.
 
Während wir die Aussicht genießen, wird es auf einmal unruhig in unserem Rücken. Zwei Dutzend Tänzerinnen und Tänzer beginnen, eine Choreographie einzuüben, vermutlich für einen Auftritt in dem Hotel. Ob die laute, zu Übungszwecken immer wieder von vorn abgespielte Musik uns womöglich stört, danach fragt niemand - immerhin sind wir Gäste des Hotels und haben diesen Ort auch deshalb aufgesucht, weil wir für kurze Zeit der geräuschvollen Hektik der Stadt entfliehen wollen. Doch wir fügen uns in unser Schicksal und halten den Mund. Die musikbesessenen Kubaner würden solche Gedanken ohnehin kaum verstehen. Überrascht sind wir von dem zärtlichen Geturtel einiger Tänzer während kleiner Pausen, ein Verhalten in der Öffentlichkeit, das wir in diesem Land nicht unbedingt erwartet hätten. Wir machen uns schlau: Während man in der Vergangenheit Homosexuelle oft ins Gefängnis warf - was der seinerzeit dafür Verantwortliche Fidel Castro später als einen Fehler bezeichnete -, begegnet man ihnen seit einigen Jahren mit einer gewissen Toleranz. Eine Veränderung, die wohl nicht unwesentlich auf das Engagement von Raúl Castros Tochter zurückgeht - Fidel Castros Nichte -, die sich vehement für die Rechte von Schwulen und Lesben einsetzt. Glücklich, wer eine solch hochkarätige Fürsprecherin hat!
 
 
Die ebenfalls am Parque Céspedes gelegene "Banco National de Cuba" ist ein moderner Zweckbau und für uns lediglich deshalb interessant, weil eine Leuchtschrift auf ihrem Dach die Temperatur verkündet. 38°C im Schatten sind es, als wir auf der Terrasse des Hotels sitzen. Es ist gerade erst 10 Uhr, und die Verlockung ist groß, den Rest des Tages reglos mit kalten Getränken zu verbringen. Doch wir sind Berliner, und Berliner sind Preußen, und als solche kennen wir unsere "Touristenpflicht" . Also kehren wir tapfer auf den Platz zurück, um das in meiner Aufzählung noch fehlende Gebäude in Augenschein zu nehmen. Für viele Kubaner dürfte es seiner historischen Bedeutung wegen die Nummer Eins auf dem Platz sein. Ayuntamiento heißt es auf Spanisch, zu Deutsch: Rathaus. Von seinem Balkon aus hat Fidel Castro am 1. Januar 1959 unter dem stürmischen Beifall der Versammelten den Sieg der kubanischen Revolution verkündet, nachdem Santiago durch die Flucht des Diktators Batista den Rebellen in die Hände gefallen war. Was sechs Jahre zuvor in derselben Stadt mit dem gescheiterten Angriff auf die Moncada-Kaserne begonnen hatte, war nunmehr zu einer Erfolgsgeschichte geworden. Zum Dank für die Bürger Santiagos, die in dem revolutionären Geschehen eine wichtige Rolle spielten, darf sich Santiago als einzige Stadt mit dem Titel "Heldenstadt der Republik Kuba" schmücken und in seinem Wappen die Inschrift tragen: "Gestern rebellisch, heute gastfreundlich, immer heldenhaft".
 
Am nächsten Tag relaxen wir abermals im "Casa Grande", diesmal auf der unteren Terrasse des Hotels, als wir auf einmal Lärm vernehmen, mehrere Trommeln und ein Blasinstrument mit einem schrillen Ton. Zusammen mit anderen Hotelgästen begeben wir uns zum Rand der Terrasse. Aus einer Seitenstraße bewegt sich eine Menschenmenge auf den Parque Céspedes zu, gut einhundert Personen, von denen einige den ohrenbetäubenden Lärm verursachen, während andere dazu tanzen. Wir rätseln: Handelt es sich um eine Probe für den Karneval, der anders als bei uns im Sommer stattfindet und in Santiago eine bedeutende Rolle spielt? Oder hat der Aufzug etwas mit der Santeria zu tun, jener afroamerikanischen Religion, die auf Kuba noch immer stark präsent ist? Oder - vielleicht die wahrscheinlichste Variante - ist es ganz einfach Spaß an der Freude? Keiner der neben uns Stehenden weiß eine Antwort. Doch was immer es sein mag - auf jeden Fall demonstriert dieser Aufzug einmal mehr, wie wichtig die Musik im Leben der Kubaner ist.
 
(Wird fortgesetzt)
 
 
Manfred Lentz (Mai 2017)

 
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