Ein russisches Versailles
Peterhof gilt zu Recht als die schönste aller Zarenresidenzen. Sankt Petersburg, 2012
 
Eigentlich wollten wir Peterhof so erreichen, wie Peter es einst getan hat, nämlich auf dem Wasser. Aber das erweist sich als problematisch, weil wir zu lange geschlafen haben. Andere sind früher aufgestanden, und die stehen nun vor uns in der Warteschlange am Bootsanleger hinter dem Winterpalais in Sankt Petersburg. Peter - das ist Peter der Große, um 1700 russischer Zar und Gründer dieser Stadt, die seinen Namen trägt. Ebenso wie der Palast, dem wir an diesem Tag einen Besuch abstatten wollen: Peterhof. Herrscher in jener Zeit besaßen oft zwei Paläste (wenn nicht gar mehr), und der russische Zar bildete in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Peterhof war der für den Sommer, in den kalten Monaten residierte er im Winterpalais, einem Gebäude mit mehr als tausend Räumen, das heute mit der Eremitage eines der größten Museen weltweit beherbergt. Der Bootsanleger befindet sich nur wenige Meter davon entfernt an der Newa, und etwa an dieser Stelle hat sich Zar Peter seinerzeit aufs Schiff begeben, wenn es ihn zu seiner rund dreißig Kilometer entfernten Sommerresidenz zog. Was für den "Herrscher aller Reußen" selbstverständlich kein Problem war, wohl aber für uns eines ist, denn die Plätze auf dem Schiff - einem schnell fahrenden Tragflächenboot ausschließlich mit Sitzplätzen - sind begrenzt. Je mehr wir uns dem Kassenhäuschen nähern, um so deutlicher erkennen wir, dass man uns nicht mehr mitnehmen wird. Plötzlich erscheint ein Mann und bietet denjenigen, die in derselben Situation sind wie wir, eine alternative Fahrmöglichkeit mit einem großen Taxi an. Der Preis dafür entspricht exakt der Fahrt mit dem Boot. Nicht zum ersten Mal bei unserem Aufenthalt in Sankt Petersburg bin ich beeindruckt von dem Tempo, mit dem marktwirtschaftliches Denken selbst die Älteren erfasst hat, die bis zum Umschwung in den 1990er Jahren nichts anderes kannten als die Beschneidung jeglicher Privatinitiative und staatliche Bevormundung. Als er uns fragt, ob wir bei ihm einsteigen wollen, sagen wir ja - oder richtiger: ich sage "da", das russische Wort für ja, schließlich soll mein Russischunterricht in der Schule nicht ganz umsonst gewesen sein. "Odin, twa, tri", zählt er die Mitfahrer ab, bei "wosjem" (acht) hört er auf. Dann führt er uns wie ein Feldherr seine Truppe zu seinem Taxi und fährt los.
 
 
Unsere Erwartungen in Bezug auf das Ziel sind groß - ach, was schreibe ich da: sie sind riesengroß angesichts der überschwänglichen Formulierungen, die man über Peterhof in der einschlägigen Reiseliteratur findet: "russisches Versailles des Ostens" scheint die beliebteste Floskel zu sein, gefolgt von "ein absolutes Muss", "eine der schönsten Schloss- und Parkanlagen der Welt" und dem immer wiederkehrenden Hinweis, dass Peterhof unter allen Zarenresidenzen des Landes den ersten Platz einnimmt. Dass der Palast angesichts all dieser Superlative zum Weltkulturerbe der UNESCO gehört, versteht sich von selbst. Also raus aus dem Auto, nachdem wir eine Stunde unterwegs waren, und den Menschenmassen gefolgt. Kaum haben wir den Palast erblickt, entfährt uns ein zutiefst beeindrucktes "Wow!" Bereits auf den ersten Blick sind wir von der Anlage restlos begeistert. Das einfache Landhaus bzw. das schlichte Schloss, das noch unter Peter dem Großen 1723 eingeweiht wurde, gibt es natürlich längst nicht mehr. Stattdessen erhebt sich an dieser Stelle ein Komplex, der unter Peters Nachfolgern immer wieder erweitert und bis ins 19. Jahrhundert kontinuierlich verschönert wurde, bis schließlich jenes langgestreckte Gebäude mit den Pavillonbauten an den Enden entstand, vor dem wir nun stehen. Doch das ist längst nicht alles. Der Palast befindet sich auf einer Anhöhe oberhalb des Finnischen Meerbusens, einer Bucht der Ostsee, zu seinen Füßen erstreckt sich ein ausgedehnter Garten, und als Verbindung zwischen beiden fungiert die "Goldene Kaskade", ein barockes, treppenförmig angelegtes Wasserkunstwerk, "eines der weltweit spektakulärsten Wasserspiele", das in der Tat überwältigend ist. Über mehrere von vergoldeten Bronzefiguren gesäumte Stufen fällt Wasser in ein großes Becken hinab, Fontänen steigen hoch empor oder beschreiben zierliche Bögen voller Anmut und Eleganz, alles fließt und ist in unablässiger Bewegung, und das alles vor dem gelb getünchten Palast mit den weißen Dekorationen und dem strahlend blauen Himmel darüber und der Sonne, die jeden einzelnen Tropfen wie einen Edelstein funkeln lässt. Unterhalb des unteren Beckens abermals Wasser, ein 400 Meter langer schnurgerader Kanal, der zum Meer führt und über den die russische Zarenfamilie und ihre Gäste die Residenz einst erreichten. Betrieben wird diese ganze komplexe Anlage mittels eines ausgeklügelten unterirdischen Rohrsystems, welches das natürliche Gefälle ausnutzt und vollständig ohne Pumpen funktioniert. Insgesamt, so verrät unser Reiseführer, gibt es rund 150 Fontänen in dieser "Fontänenhauptstadt Russlands", etliche davon als Bestandteil der Goldenen Kaskade, andere verstreut in dem weitläufigen Park, denen wir später auf unserem Rundgang begegnen.
Als "eines der wichtigsten Touristenziele" Russlands zieht Peterhof Besucher aus aller Welt an, darunter auch unzählige aus Deutschland. Ob denjenigen, die hier in bester Urlaubslaune das spektakuläre Ensemble genießen und ein Foto nach dem anderen machen, bewusst ist, was an diesem Ort vor gar nicht einmal so langer Zeit geschah? Allen gewiss nicht, und vielleicht ist es auch nicht einmal so schlecht, dass die Schatten der Vergangenheit mit jeder neuen Generation immer weniger präsent sind. Den Älteren unter den Besuchern allerdings klingt der Begriff "Blockade von Leningrad" - so lautete damals der Name von Sankt Petersburg - vermutlich noch deutlich in den Ohren, die beinahe dreijährige Belagerung der Stadt durch deutsche Truppen mit mehr als einer Million Toten und Verwüstungen ohne Ende. Auch vor dem nahe gelegenen Peterhof hat die verbrecherische Politik Hitlerdeutschlands damals nicht Halt gemacht. Bereits weitgehend geplündert und zerstört, wurde der Palast im September 1941 von einem Geschoss getroffen und in Brand gesetzt. Was für sich genommen schon schlimm genug war, was aber noch schlimmer gemacht wurde durch den Befehl, der den Einheimischen bei Androhung der Todesstrafe das Löschen des Feuers verbot. Eine Kulturbarbarei, die sprachlos macht. Anschließend funktionierten die deutschen Truppen jene Gebäudeteile, die von dem Brand verschont geblieben waren, in einen Stützpunkt für sich um. Den Park, in dem die Bewohner des Schlosses einst gelustwandelt waren, durchzogen sie mit Panzersperren, sie legten Minen und spannten Stacheldraht. Heute sind die Spuren dieser finsteren Epoche längst getilgt, und beim Spaziergang durch die Anlagen erinnert nichts mehr an die damalige Zeit. Anders stellt sich die Situation im Palast dar. Viele der ursprünglichen Kunstschätze sind unwiederbringlich zerstört oder verschollen, und in den Räumen sind noch immer die Restauratoren am Werk. Mit Hingabe und viel Liebe zum Detail versuchen sie, diesem Schmuckkästchen das Gesicht zurückzugeben, das es einstmals besaß.
 
 
Zwei Gärten gibt es in Peterhof, einen oberen und einen unteren. Da unsere Zeit an diesem Tag begrenzt ist, müssen wir auswählen und entscheiden uns für einen ausführlichen Bummel durch den unteren Garten. Durch einen Landschaftspark nach englischem Muster mit einem ausgedehnten Wegenetz, das darauf abzielt, den Besucher ein ums andere Mal zu überraschen. Hier ist es ein Pflanzenensemble, das zum Schauen einlädt, dort steigen weitere Fontänen in den Himmel, geben gepflegte Baumreihen den Blick auf den Palast oberhalb der Goldenen Kaskade frei oder auf die kleinen Lustschlösschen Montplaisir und Marly, bei denen sowohl die Namen als auch die Architektur deutlich machen, wie stark sich Russland zur Zeit ihrer Erbauung als Teil Europas empfand. Ganz im Sinne Peters des Großen, der die Kombination eigener Traditionen mit westeuropäischen Errungenschaften als den besten Weg für sein Land ansah. Eine Geisteshaltung, die auch unter seinen Nachfahren fortdauerte und in dem Wort von dem "Versailles des Ostens" beredten Ausdruck fand. Und die nicht erst während des Zweiten Weltkrieges verschwand, sondern bereits im Gefolge der Oktoberrevolution von 1917, als die neuen Herrscher im Kreml den Westen nur noch als den verabscheuungswürdigen Imperialismus zu sehen vermochten, den es zu bekämpfen galt.
 
Etliche Jahre sind seither vergangen, vieles hat sich verändert, und Peterhof erstrahlt wieder in seinem alten Glanz. Ein kostbarer Juwel, der so hell leuchtet, dass die Schatten der Vergangenheit dagegen verblassen. Gegen die aktuelle Zeit kommt indes auch er nicht an - soll heißen: gegen den Fahrplan des Bootes zurück nach Sankt Petersburg, das wir diesmal nehmen können, denn wir sind rechtzeitig am Anleger. Ganz ist es freilich nicht das Original-Peter-Feeling, als das Tragflächenboot mit hoher Geschwindigkeit über die Ostsee rast. Aber zumindest die Ausblicke auf die Bucht lassen an den Zaren denken, der einst den Anstoß für die Errichtung dieses Palastes gab, der Jahr für Jahr unzählige Menschen aus aller Welt anzieht. Gewiss ist dies nicht der geringste unter den Gründen, weshalb Zar Peter auch heute noch bei den Russen ein so hohes Ansehen genießt.
 
Manfred Lentz
 
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