High Heels bei Jelissejew.
Der Newskij Prospekt in Sankt Petersburg. 2012
 
 
Es ist ein Bild wie aus einem Film: an den Füßen High Heels, die Traummaße unter einem Mini weniger versteckt als provokant präsentiert, lange blonde Haare und ein Gang, der jeden Schritt zu einem Event macht. Neben der ausladenden Palme in der Mitte des Raums hält sie kurz inne. Für die verspielten Jugendstil-Leuchter hat sie ebenso wenig einen Blick wie für den riesigen Spiegel, das Gold an der Decke und an den Brüstungen über den Tresen und den Regalen aus edlem Holz, weil sie alles schon kennt. Stattdessen geht sie zu einem Ständer und streckt die Hand nach einer Packung erlesener Pralinées aus. Nachdenklich spitzt sie den Mund, dann legt sie die Packung zurück, wendet sich den Regalen mit dem Champagner und den ausgesuchten Weinen zu, schlendert an den von Kristalllüstern verführerisch beleuchteten Konditoreiwaren vorbei, wandert weiter in der Gewissheit, unter den 25.000 Artikeln dieses Geschäfts doch noch das Richtige zu finden und bleibt schließlich vor einer Vitrine stehen. Vor dem Kaviar. Die Büchse, die sie nach kurzem Zögern kauft, ist nicht groß, aber teuer. Während sie der Verkäuferin ihre Karte reicht, haucht sie das Wort "Geschenk". Wenig später hält sie es in der Hand, hübsch eingeschlagen und mit einer Schleife verziert. Ein Blick auf die wertvolle Uhr an ihrem Handgelenk sagt ihr, dass sie noch Zeit für einen Espresso hat, und so lässt sie sich an einem der Tischchen unter der Palme nieder. Dass mehrere Männer sie beobachten, quittiert sie mit erprobter Gleichgültigkeit. Als sie den Espresso getrunken hat, langt sie nach ihrer Gucci-Tasche und dem Täschchen mit dem Geschenk und erhebt sich. Klick-klack machen ihre Absätze auf den edlen Fliesen, ein livrierter Portier hält ihr die Tür auf, und im nächsten Augenblick ist sie draußen. Jelissejew ist der Name des Geschäfts. Die Straße, auf die sie tritt, ist der Newskij Prospekt.
Wäre die Schöne dreißig Jahre früher auf die Welt gekommen, so wäre aus ihr vielleicht eine verdiente Melkerin des Volkes geworden mit ein paar Orden an der Wand, aber diese Zeiten sind vorbei. Die Welt ist eine andere - für sie ebenso wie für das Geschäft, das an die Traditionen seiner einstigen Gründer anknüpfen konnte, und nicht minder für die Straße davor, den Newskij Prospekt. Auch für ihn hat sich alles geändert, und was er einmal war, das ist er heute wieder: eine Flaniermeile mit internationalem Flair, ein Anziehungspunkt sowohl für Einheimische als auch für Touristen aus aller Welt. Schicke Läden und trendige Cafés, Einkaufspassagen, teure Hotels, dazu viel Mode und Eleganz, all das findet man auf dieser Straße. Dazu etliche Palais aus längst vergangenen Zeiten, die städtischen Refugien des ehemaligen Sankt Petersburger Adels, von dem die Familie der Stroganows uns am bekanntesten ist, wenngleich auch nur wegen ihrer Bedeutung für die Küche: für das Boeuf Stroganow. Erst vor rund dreihundert Jahren kamen diese Familien hierher, zwangsverpflichtet von Zar Peter dem Großen, der ausgerechnet an diesem unwirtlichen Ort inmitten von Sümpfen seine neue Hauptstadt errichten wollte. Angetrieben von dem Ehrgeiz des unumschränkten Herrschers und unter Einsatz gewaltiger Ressourcen entstand damals ein einzigartiges Bauensemble, eine Retortenstadt aus einem Guss. Und in ihrer Mitte der Newskij Prospekt, eine städtische Verkehrsader und zugleich das Herz der Stadt. Und damit auch ein Thema für die Literatur. Gogol hat ihm einen ganzen Aufsatz gewidmet, in Dostojewskis Werk kommt er vor, ebenso wie in den Werken von Nekrassow und Gontscharow. Auch für Puschkin hatte der Newskij Prospekt eine Bedeutung, denn hier, in dem noch heute existierenden Café mit der Hausnummer 18 pflegte der große russische Dichter einzukehren und mit Freunden die Probleme der Welt zu diskutieren. Und von hier aus brach er an einem Wintertag im Jahr 1837 zu jenem Duell um einer Frau willen auf, das ihn sein noch viel zu junges Leben kosten sollte.
Wenige Gehminuten sind es von dem Café bis zur Kasaner Kathedrale, dem höchsten Bauwerk am Prospekt, für das der Reiseführer einen anderen großen Namen vermerkt: Michail Kutusow, der Feldmarschall, der das Land vor zweihundert Jahre von Napoleon befreite. Zusammen mit mehreren Russen stehen wir vor seinem Grabmal in der mächtigen Kathedrale. An den Wänden hängen erbeutete französische Fahnen sowie die Schlüssel mehrerer von russischen Truppen befreiter Städte, darunter die von Bremen und Lübeck. Während wir unsere Blicke über das Grabmal wandern lassen, wird hinter uns ein Gottesdienst gefeiert. Weihrauch, der bühnenreife Gesang der Priester im Wechsel mit einem Chor, wertvolle Ikonen an den Wänden und Hunderte von Kerzen davor - es ist eine Stimmung, die uns auch als Nichtgläubige unwiderstehlich in ihren Bann zieht. 
 
Überhaupt die Kirchen - von ihnen gibt es mehrere auf dem Newskij Prospekt, eine katholische, eine armenische oder auch die lutherische St.-Petri-Kirche, die - man mag  es kaum glauben - in der Sowjet-Ära in eine Schwimmhalle umgewandelt worden war. Ein Be-cken anstelle der Bestuhlung, ein Sprungbrett am Ort des Altars, an den Seiten ansteigende Zuschauerplätze für Wettkämpfe. Eine Politik, die den Atheismus zum Dogma erhoben hatte und die schmählich gescheitert ist, Gottseidank, möchte man sagen. Die ansteigenden Sitze hat man als Zeitzeugen erhalten, ansonsten ist die Kirche restauriert, ebenso wie etliche andere. Wie die Auferstehungskirche zum Beispiel. Zwar steht diese nicht am Newskij Prospekt, aber sie ist von dort aus gut sichtbar und gibt mit ihren fantasiereich gestalteten Türmen ein beliebtes Fotomotiv ab. Zusammen mit den liebevoll wiederhergestellten Mosaiken in ihrem Inneren ist sie ein Highlight, das sich keine Reisegruppe entgehen lässt. So groß ist die Zahl der vor der Kirche anhaltenden Busse, dass sich schräg gegenüber ein kleiner Markt gebildet hat, mit einem Angebot, das das Interesse der sightseenden Touristen auf den Punkt trifft: mit Matrjoschkas. Jeder kennt sie, und fast jeder liebt sie, die kleinen Puppen, die man ineinanderstecken kann, vier, sechs, fünfzehn oder noch mehr. Doch längst gibt es nicht mehr nur die tradionellen Varianten, nein, es gibt auch Matrjoschkas von ganz anderer Art. Grinsend stehen wir vor Angela Merkel, Obama und Putin, eher fragend vor Sarkozy, der am Tag unseres Besuchs bereits ein Auslaufmodell ist, kopfschüttelnd vor Osama bin Laden und den Massenmördern Mao und Stalin. Offensichtlich kann man Demokratie und Marktwirtschaft nicht ohne Auswüchse haben, warum sollte das bei den Russen anders sein als bei uns.
Zurück zum Newskij Prospekt und auf ihm zu dem ungewöhnlichsten Kaufhaus, das wir bis dahin gesehen haben. Gostiny Dwor heißt es, ein zweistöckiger, rechteckiger, rund 250 Jahre alter Bau mit einem Hof in der Mitte, auf dem die Kaufleute einst ihre Tiere unterbringen konnten. Tiere gibt es dort längst nicht mehr, und in den Abteilungen, in denen die Kaufleute ihre Waren stapelten, warten heute Verkäuferinnen auf kaufwillige Kunden. Vor allem wohl auf sportliche, vermuten wir, denn sportlich zu sein scheint uns eine wesentliche Voraussetzung, um dieses Kaufhaus umfassend nutzen zu können: Läuft man auch nur einmal das gesamte Rechteck ab, so ist man mehr als einen Kilometer unterwegs, und das allein in einer Etage.
 
Fröhliche Farben, wortreiche Werbung, die ganzen süßen Verlockungen des Konsums - ein Stück den Newskij Prospekt hinunter findet sich eine Stelle, an der alles ganz anders ist. Beklemmend und belastend. Dort gibt es einen Ort der Erinnerung an die Opfer der Blockade während des letzten Krieges, einen von vielen vergleichbaren Orten in der Stadt. 872 endlose Tage und Näche war diese Stadt, die damals noch Leningrad hieß, von der Außenwelt abgeriegelt wie im Mittelalter eine belagerte Burg, ein Geschehen, das so unmenschlich ist, dass es einem geradezu die Sprache verschlägt. Deutsche haben das getan, eine andere Generation als wir, aber wenn man auch nur einen Funken Sensibilität für die Vergangenheit besitzt, kann man an einem solchen Grauen nicht einfach vorbeigehen. Der Ort der Erinnerung am Newskij Prospekt ist eine erhalten gebliebene Aufschrift an einer Hauswand, die die Bürger auffordert, wegen des Beschusses durch deutsche Kanonen die andere Straßenseite zu benutzen. Nicht alle sind dieser Aufforderung gefolgt, einige wurden von Geschossen tödlich getroffen, und zur Erinnerung an sie hat man diesen Ort des Gedenkens eingerichtet. Mehrere Russen verlangsamen ihre Schritte, als wir einen Blumenstrauß niederlegen. Vielleicht nehmen manche dieses Denkmal - es ist ein kleines, eher unauffälliges - zum ersten Mal wahr, wobei das sicherlich eher die Jungen wären als die Alten. Was auf der einen Seite beklagenswert wäre, auf der anderen aber auch die gewachsene Normalität widerspiegeln würde. Dieselbe Normalität, für die letztlich auch wir stehen - zwei Deutsche auf einem Bummel auf der alten Sankt Petersburger Flaniermeile, vorbei an den großartigen Bauten der Vergangenheit und den schicken Geschäften der Gegenwart, umgeben von Menschen, die von ihrer Herkunft und ihrer Erscheinung so verschiedenartig sind, wie sich das für einen Boulevard nun einmal gehört. High Heels bei Jelissejew - formuliert man es ein wenig überspitzt, so erinnern uns eigentlich nur die kyrillischen Buchstaben daran, dass wir nicht in Paris sind, in London, Berlin oder Wien. Betrachtet man dies vor dem Hintergrund des erwähnten Denkmals, dann ist das gut so. Sehr gut sogar!