Locker vom Hocker.
      Auch Reisen will gelernt sein. Marokko 1972
 
 
Vor mir liegt ein Tagebuch, darauf steht: "Mittelmeer 1972". Damals war ich 22 Jahre alt, und es war meine erste Reise, die mich aus Europa herausgeführt hat, von der Schiffsreise nach Südamerika (Bericht 001) abgesehen, bei der ich allerdings mehr Meer und weniger Land gesehen habe. Wir waren zu viert unterwegs, zwei Pärchen auf einer Tour um das halbe Mittel-meer: Frankreich und Spanien, Marokko und Algerien, von dort nach Tunesien, weiter nach Sizilien, anschließend nach Griechenland und über Jugoslawien und Österreich zurück. Zehn Wochen dauerte die Reise, und das alles in einem VW-Bus, keinem neuen, schließlich hat man in diesem Alter eher weniger Geld als genug. Eine Gitarre war auch dabei, wie das damals üblich war, außerdem ein Tonbandgerät mit Stereo-Lautsprechern für das akustische Reisefeeling (Stereo! Wow!), dazu jede Menge Gepäck. Was unserem Wagen einiges abverlangen musste, weswegen wir - umsichtig und unbeschwert, wie wir damals waren - den Tacho und damit den Kilometerzähler abklemmten. Schließlich wollten wir den Wagen nach Abschluss der Reise wieder verkaufen ...
 
3.000 Kilometer waren es bis Algeciras in Südspanien, von wo uns eine Fähre über die Straße von Gibraltar zum afrikanischen Kontinent hinüberbringen sollte. Fährtickets hatten wir uns vorher nicht besorgt, wir waren ja locker vom Hocker, nur gut, dass wir auch ein wenig Glück dabei hatten, denn die erstandenen Karten für die Überfahrt waren die letzten. "Wir stehen auf afrikanischem Boden, ein heißes Gefühl!", haben wir in unserem Tagebuch vermerkt, und zweifellos war es das auch, denn alles war uns fremd. "Wir schauen uns die Augen aus dem Kopf, denn hier ist alles ganz anders als das, was wir kennen. Wir haben diese Menschen zwar schon im Kino und Fernsehen gesehen, aber die direkte Begegnung ist doch ein Unterschied. Verschleierte Frauen, Männern mit finsteren Blicken, Feze, Turbane, wilde Umhänge bestimmen das Bild. Alles rennt wild durcheinander, gestikuliert, schreit, palavert."
 
Finstere Blicke, wilde Umhänge und wildes Durcheinandergerenne - unser Verständnis von Land und Leuten war damals noch recht unterentwickelt, das meiste Klischees, wenngleich wir aufgeschlossen waren und bereit, uns mit dem Fremden auseinanderzusetzen. Was uns nicht immer auf Anhieb gelang. "Gegen Morgen dämmerten wir noch alle im Halbschlaf", vermerkt unser Tagebuch in Tanger, "der gegen 5.30 Uhr durch das Gegröhle eines Marokkaners in der Stadt unterbrochen wurde." Kenntnisreicher hätte der Satz lauten müssen, dass uns der Ruf des Muezzins weckte, aber dieser Name sowie die entsprechenden Zusammenhänge waren uns damals noch nicht geläufig. Leichter verständlich war da schon das Kamel irgendwo am Straßenrand, das uns noch in demselben Augenblick, in dem wir es sahen, abrupt anhalten ließ. Ein kurzer Handel mit dem Besitzer, und schon saß ich im Sattel, so wie ich das bisher nur aus Filmen kannte. Meine drei Mitreisenden ebenfalls. "Wie Lawrence von Arabien", lautete ihr sachkundiger Kommentar. "Es fehlt nur noch die entsprechende Kleidung." Locker vom Hocker, wir fühlten uns gut, ein paar Fotos zur Erinnerung, dem Kamel noch kurz über das Fell gestreichelt, und schon kletterten wir wieder in unsere viel zu enge Kiste. Eingehüllt in eine Klangwolke aus Jimi Hendrix, Stones, Pink Floyd und was-weiß-ich-noch-alles ging die Fahrt weiter.

Aufgeschlossenheit ist die Voraussetzung für Gewöhnung. "Alles ist schon unheimlich vertraut", notierten wir einige Tage später in Casablanca. "Die Menschen kommen uns alle schon sehr bekannt vor, alles Fremde der ersten Tage ist verschwunden." Womit das Äußerliche gemeint war, das durch die ständige Wiederholung in der Tat sehr schnell in den Hintergrund trat und den Blick frei machte auf etwas anderes: auf die Menschen an sich. Von denen allerdings - das geht aus unserem Tagebuch deutlich hervor - nervten uns viele. Da waren die Scharen der Kinder, die uns auf Schritt und Tritt hinterherliefen und uns um Dirhams, Bonbons und Kugelschreiber anbettelten, da waren die Männer, die sich mit geheuchelter Anteilnahme nach unserem Befinden erkundigten, um sich bereits im nächsten Moment als Führer zu irgendeiner Sehenswürdigkeit anzudienen, da waren die Parkplatzwächter oder wo es keinen Parkplatz gab, ganz einfach die "Autoaufpasser", die stets zur Stelle waren, noch bevor wir den Zündschlüssel herumgedreht hatten, da waren die wortgewaltigen, ausgreifend gestikulierenden Händler, die uns tausend Souvenirs vor die Nase hielten oder uns in ihre Läden zu locken versuchten, um uns Dinge schmackhaft zu machen, die wir nicht brauchten. Natürlich waren es nicht "die Marokkaner", die an unseren Nerven sägten - die allermeisten gingen an uns vorbei, ohne uns auch nur zu beachten. Nein, von den Kindern einmal abgesehen waren es diejenigen, die von den Touristen lebten, was wir durchaus verstanden, aber dennoch schalteten wir schon nach kurzem Aufenthalt im Land auf Abwehr. Doch es gab auch Begegnungen ganz anderer Art. So etwa mit jenen Jungen, die uns um Bonbons anbettelten, wie es uns schien, die in Wirklichkeit aber etwas ganz anderes im Auge hatten, nämlich das Brot in unserer Einkaufstasche, das sie hungrig in sich hineinstopften, nachdem wir es ihnen gegeben hatten. Oder die Kinder in Marrakesch: Kaum hatten wir bei einer Garküche unsere Teller zur Seite gestellt, als sie sich gierig über diese hermachten und das Wenige, das wir darauf zurückgelassen hatten, ableckten. So etwas kannten wir bis dahin nur aus den Erzählungen unserer Eltern. Hier erlebten wir es, und es machte uns stumm.
Dass die Landschaft ein großes Erlebnis für uns war, braucht nicht besonders betont zu werden. Marokko ist auch für die heutigen Besucher noch ein Erlebnis. Das gilt auch für Marrakesch, jene marokkanische Stadt aller Städte, die in keinem Angebot eines Reiseveranstalters fehlt. Mit dem malerischen Marktplatz am Rand der Medina, dem Platz der Hingerichteten, auf dem es glücklicherweise keine Hinrichtungen mehr gibt, dafür jede Menge Buden, Garküchen und dazu ein buntes Völkchen von Gauklern und Schaustellern aller Art, die fantasiereich und für uns recht exotisch um die Aufmerksamkeit sowohl der einheimischen als auch der Zuschauer aus aller Herren Länder buhlen.
 
Und dann die Fahrt durch die Wüste. Wie unsere Landkarten aussahen, daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Aber vermutlich war Marokko drauf, Algerien ebenfalls und dazu ver-einzelte Linien auf braunem und gelbem Untergrund, allenfalls noch ein paar Kilometerangaben. Auch hier hielten wir es mit dem Locker vom Hocker - also rein in die Wüste bei hochsommerlichen Temperaturen, unser Auto mit Zweiradantrieb, die schmalen Reifen eher für Asphaltstraßen geeignet, dazu ein Ersatzreifen, so ging es einfach rauf auf die Piste und wild entschlossen unserem Ziel entgegen, von dem wir nicht wussten, wann wir es erreichen würden, und wie wir das schaffen sollten, das wussten wir auch nicht so recht. Aber wir fuhren. Geröll an einem Engpass ließ uns beinahe scheitern, auch der Sand, aus dem wir unser Auto herausschieben mussten, ohne Sandbleche, na klar, und gequält von diffusen Gedanken an "gefährliche Viecher", wie wir notierten, was sich indes als völlig unbegründet erwies. (Wie auch anders, sagte ich mir in späteren Jahren, als ich noch mehrmals in der Sahara unterwegs war.) Über eine Oase vermerkten wir in unserem Tagebuch die Freundlichkeit ihrer Bewohner sowie den Umstand, dass sie uns Coca-Cola verkauften, eisgekühlt, versteht sich, was uns erkennen ließ, wie eng die Welt schon damals zusammengerückt war. Weiter ging es danach in schnellstmöglichem Tempo, denn eine Nacht in der Wüste erschien uns als Horrortrip (in späteren Jahren sollte ich solche Nächte noch über alle Maße genießen), weshalb wir froh waren, bei Einbruch der Dunkelheit mit Erfoud unser Ziel zu erreichen.
Das ist noch nicht die "richtige" Wüste, stellten wir am nächsten Tag einstimmig fest und meinten damit die Sandwüste, wie wir sie von Fotos her kannten. Natürlich waren wir scharf auf ein paar Dünen, und obwohl der Massentourismus noch nicht richtig in Fahrt gekommen war, hatte Marokko im Jahr 1972 auch längst nicht mehr seine touristische Jungfräulichkeit bewahrt. Und so saßen wir denn am darauffolgenden Tag bald nach Mitternacht in einem von einem Einheimischen gelenkten Jeep und rasten in einer Wolke aus Staub und Sand jenem Punkt entgegen, von dem uns der Fahrer am Vorabend vorgeschwärmt hatte. Ein Sonnenaufgang in der Sahara, wir vier auf einer Sanddüne in unendlicher Einsamkeit, über uns das zarte Licht des anbrechenden Tages und vor uns am Horizont die Sonne, wie sie sich seit uralten Zeiten aus dem Sandmeer erhebt und ihre Wanderung über den Himmel beginnt - das sollte es sein. Emotionen pur also, und dazu ein paar sensationelle Fotos. Doch als wir schließlich nach längerer Fahrt jene Düne erreichten, von der aus man laut Fahrer dieses Schauspiel am besten würde sehen können, stockte uns der Atem: Zehn Autos parkten dort bereit, oben auf der Düne lagerten deren Insassen, sichtlich in Gedanken verloren und die Kameras zum ultimativen Schuss bereit. Enttäuschung hin, Enttäuschung her - wir gesellten uns zu ihnen und richteten wie sie unsere Blicke auf den Horizont, der sich bereits zunehmend verfärbte, und über den schon bald die Sonne empor kroch, trotz nicht vorhandener Einsamkeit noch immer ein Ereignis, das uns ein Gänsefeeling auf die Haut zauberte. 3.500 Kilometer von zu Hause entfernt, jeden einzelnen davon selbst zurückgelegt bis in eine Welt, die es für uns bis dahin nur in Filmen und in unserer Fantasie gegeben hatte. Noch immer waren wir locker vom Hocker. Vor allem aber waren wir in diesem Augenblick stolz auf uns selbst, denn allen Unzulänglichkeiten zum Trotz und unbeschadet all unserer Naivität - was wir uns vorgenommen hatten, das hatten wir geschafft.