Venedig, Nevada
oder: Auf einem Laufband über die Rialtobrücke. 2009 und 2011
 
Hätten Sie es bemerkt? Ich meine das Bild über diesem Text, den Eyecatcher, falls Ihnen dieser Begriff etwas sagt. Vier Mal ist der Campanile darauf zu sehen, eines der Wahrzeichen Venedigs. Er erhebt sich auf der Piazza San Marco nahe dem Markusdom und dem Dogenpalast. Das wusste ich bereits, werden Sie jetzt vielleicht sagen, und womöglich ist Ihnen an diesen Bildern noch immer nichts aufgefallen. Es ist auch nicht leicht zu bemerken. Doch ich will Sie nicht länger auf die Folter spannen: Nur bei zwei Bildern handelt es sich um den Campanile auf der Piazza San Marco, die beiden anderen zeigen eine Kopie. Und diese steht nicht in der italienischen Lagunenstadt, sondern einige tausend Kilometer entfernt.
 
 
Las Vegas ist zweifellos eine der bekanntesten Städte der USA, sie befindet sich im Bundesstaat Nevada und ist weltweit als Spielerparadies bekannt. Das Herz von Las Vegas ist der Strip, ein mehrere Kilometer langer Boulevard, an dem etliche große Hotels liegen, so auch das "Venetian Resort", vor dem besagte Campanile-Kopie steht. Wobei das Wort groß im Zusammenhang mit den Hotels eigentlich eine krassse Untertreibung ist - Begriffe wie riesig oder gigantisch wären angemessener. Genau 4.049 Zimmer gibt es im "Venetian Resort", und seit der Eröffnung des Schwesterhotels "The Palazzo" sind weitere hinzugekommen, wodurch sich die Gesamtzahl der Zimmer auf unglaubliche 7.128 beläuft. Achtzehn Restaurants gehören zu dem Hotelkomplex, dazu zahlreiche Geschäfte, eine Dependance von Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett sowie selbstverständlich ein Kasino, eines von einer ganzen Reihe solcher Einrichtungen in Las Vegas, die der eigentliche Daseinszweck dieser mitten in einer Wüste gelegenen Stadt sind.
 
Und der Campanile gehört dazu, eine bauliche Referenz an den Namen des Hotels. Doch was wäre der Campanile allein, scheinen sich die Erbauer des "Venetian" gedacht zu haben, und deshalb haben sie neben diesem Turm gleich noch die Rialtobrücke nachgebaut, den Dogenpalast sowie Kanäle, auf denen Interessierte sich - na klar! - in venezianischen Gondeln herumfahren lassen können. Mit dem Unterschied allerdings, dass die amerikanischen Kanäle nicht im Freien liegen wie ihre italienischen Vorbilder, sondern unter einem Dach in einem weitläufigen Gebäudekomplex, in dem es auch die bereits erwähnten Geschäfte und Restaurants gibt, dazu Plätze und mehrere Brücken, auf denen die Flaneure die Kanäle überqueren können. Während wir in einem der malerisch an einem Canale gelegenen Ristorante den Gaumenfreuden der italienischen Küche zusprechen, dringt der schmelzende Tenor eines Gondoliere durch das offene Fenster herein, der sein "O sole mio" kaum weniger herzerweichend zur Aufführung bringt als seine Kollegen im Land des Belcanto, der aber vielleicht aus Las Vegas stammt, aus New York oder "Paris, Texas" oder vielleicht aus Chicago wie unser Ober, der nicht einmal auf italienische Vorfahren zurückblicken kann, sich dennoch in dem mediterranen Ambiente seines Ristorante wohl fühlt, wie er uns erklärt, das im fernen Italien auch nicht italienischer sein könnte.
Unweit der beiden Säulen mit dem Markuslöwen und Theodorus auf dem Drachen liegt der Dogenpalast. Das ist in Venedig so, und das ist hier nicht anders. Sieht man einmal von mehreren übergroßen Werbeplakaten an der amerikanischen Version ab, so sind die beiden Paläste auf den ersten Blick kaum voneinander zu unterscheiden. Indes ist der Geist, der in ihnen wohnte bzw. wohnt, verschieden: Ging es in dem Original zu Zeiten der Serenissima Repubblica di San Marco vornehmlich um Politik, so regiert in der Kopie aus der Jetztzeit allein der Kommerz. Schicke Läden reihen sich einer an den anderen, die einzelnen Etagen sind durch halbkreisförmige Rolltreppen miteinander verbunden, einer Form, die wir - obwohl wir auf Reisen schon einiges gesehen haben - bisher nicht kannten. Wir lassen uns einen Latte schmecken und schauen dabei den Shoppenden zu, die mit werbebedrucken Tragetüten in den Händen suchend die Geschäfte durchwandern und den anderen, die einfach nur das stilvolle Ambiete bewundern, den Dreiklang aus edlen Materialien, gekonntem Design und kreativen Ideen.
 
 
Wir verlassen den historisierenden Konsumtempel und stehen gleich darauf unterhalb der Seufzerbrücke, die hier - welch ein Glück! - anders als im Original nicht in die gefürchteten Bleikammern führt, in denen die Staatsgefangenen ihr Schicksal durchlitten, sondern in ein schmuckes Patrizierhaus mit kleinen Balkonen und Säulen an den Fenstern. Gleich daneben befindet sich mit der Rialtobrücke ein weiteres Wahrzeichen Venedigs. Im Original steht sie ein gutes Stück von ihrer kleinen Schwester entfernt, hier ist sie dicht herangerückt, was die ungewöhnliche, aber reizvolle Möglichkeit eröffnet, beide gemeinsam auf ein Foto zu bannen. Ungewöhnlich ist auch, dass anstelle des Canale Grande profaner Straßenverkehr unter der Rialtobrücke hindurchfließt, aber wer wollte hiermit hadern, wo das Bauwerk doch ansonsten im Wesentlichen seinem Vorbild folgt. Allerdings wären die Amerikaner nicht die Amerikaner, hätten sie sich sklavisch an alle vorgegebenen Einzelheiten gehalten. Ein Disneyland haben sie aus der Rialtobrücke zwar nicht gemacht, dennoch haben sie sich etwas einfallen lassen, was jedem traditionsbewussten Italiener einen Schauer über den Rücken jagen dürfte. Wir erschaudern nicht, als wir das sehen, doch auch wir halten ungläubig inne und schütteln den Kopf. "Das kann doch nicht wahr sein!", entfährt es uns. Aber es ist wahr: Hier in Las Vegas läuft man nicht einfach über die Brücke, wie die Venezianer es seit Jahrhunderten tun - nein, hier rollt man hinüber, auf Laufbändern, wie man sie von Flughäfen kennt: zunächst ein kurzes Stück aufwärts, dann ein wenig geradeaus, und anschließend wieder nach unten. Und die ganze Zeit über kann man einfach stehen bleiben und den Blick nach draußen genießen, der zwischen marmornen Säulen hindurch auf  den Markuslöwen und Theodorus mit dem Drachen fällt, auf Gondeln und den Dogenpalast, aber ebenso auf das "Treasure Island Hotel" sowie die riesigen Werbetafeln, die einen uns unbekannten Tim Allan anpreisen, die "Blue Man Group" und den "Tao Night Club". Was wohl die erlauchten Herren der Serenissima zu dieser Szenerie gesagt hätten, geht es uns durch den Kopf. Aber dann müssen wir aufpassen, denn das Laufband ist zu Ende, und im nächsten Augenblick haben wir wieder festen Boden unter den Füßen. Vor uns reckt sich wie ein wuchtiges Ausrufezeichen der Campanile in den Himmel über der Wüste. Willkommen in Las Vegas! Willkommen in Venedig in Las Vegas!
 
Manfred Lentz