Die Seelen der Sänger.
Im Rattentempel von Deshnok.
Rajasthan/Indien 1994
 
 

Der Dieb kommt in der Nacht, während ich schlafe. Über einen angelehnten Rucksack erklimmt er mein Bett, huscht an dessen Rand entlang, macht vor meinem Gesicht halt oder auch nicht, ich weiß es nicht, ich habe ihn nicht gesehen, setzt anschließend mit einem kurzen Satz auf meinen Nachttisch hinüber und macht sich über die Kekse her, die ich am Abend dort liegen gelassen habe. Einige knabbert er an, aber auch das bekomme ich nicht mit, ich bin versunken in Träumen. Erst am nächsten Morgen entdecke ich die Spuren, und nach Lage der Dinge lässt sich der Weg des nächtlichen Diebs leicht rekonstruieren. Gleich darauf sehe ich ihn höchstselbst, wie er unter einem Schrank hervorlugt. Meine spontane Reaktion ist die, die man aus Witzblättern kennt: Ich steige aufs Bett. Aber während ich noch dort stehe und überlege, wie wir den ungebetenen Gast am besten loswerden könnten, hat meine Frau die Lage bereits geklärt. Ein Wurf mit einem Schuh, und die Ratte verschwindet unter der Tür hindurch ins Freie.

Ratten sind in Indien allgegenwärtig. Selbst aus der Registrierkasse eines Imbissstandes können sie plötzlich hervorspringen, wie wir es auf dem Flughafen von Delhi erlebt haben. Die Menschen in Indien haben es gelernt, mit diesen Tieren zu leben. Ja, mehr noch: Bei vielen genießt die Ratte eine Verehrung, die uns Mitteleuropäern unverständlich ist. Für Hindus ist die Ratte ein heiliges Tier, und das nicht zuletzt deshalb, weil sie das Reittier ihres wohl beliebtesten Gottes ist, des elefantenköpfigen Ganesha (siehe Bericht 3: Das göttliche Dickerchen ...). Doch es gibt noch eine Steigerung für diese Verehrung der Ratte. Karni Mataji Ka Mandir ist der Name dafür. Karni Mataji Ka Mandir ist das Paradies der indischen Ratten: ihr Tempel.

Wir sind in Rajasthan unterwegs, jenem Bundesstaat im Nordwesten Indiens, dessen Beschreibungen imposanter Festungen, glänzender Paläste und schwerreicher Maharadschas oftmals an Märchen erinnern. Noch vor Sonnenaufgang sind wir aufgestanden, da wir ein Zeitfenster einhalten müssen. Mit einer Motorrikscha gelangen wir zum Busbahnhof von Bikaner, von dort mittels eines altersschwachen Überlandbusses in die 30 Kilometer entfernte Kleinstadt Deshnok nahe der pakistanischen Grenze. Eine gute Stunde dauert die Fahrt. Wir überholen Bauern mit Säcken und Körben auf dem Weg zum Markt, Kamele, die Wagen ziehen wie in unseren Breiten die Pferde, einmal auch einen Arbeitselefanten, auf dessen Rücken ein Mahout sanft vor sich hindämmert.

Den Rattentempel brauchen wir nicht erst zu suchen, er liegt gleich gegenüber der Haltestelle unseres Busses. Seine Geschichte reicht etwa 600 Jahre zurück und ist mit Karni Mata verbunden, deren Namen der Tempel trägt. Karni Mata gehörte der Kaste der Charanen an, der schon damals wie auch noch heute hochverehrten fahrenden Sänger, und wurde bereits zu Lebzeiten als eine Heilige verehrt. Eine Legende berichtet, dass der Maharadscha von Bikaner ihr einst ein totes Kind bringen ließ mit der Bitte, es wieder zum Leben zu erwecken. Karni Mata wandte sich an den Totengott Yama und ersuchte ihn, das verstorbene Kind herauszugeben. Doch mit der Begründung, die Seele des Kindes sei bereits in einem anderen Wesen wiedergeboren worden, lehnte Yama diesen Wunsch ab. Worauf Karni Mata sehr wütend wurde und in ihrem Zorn bestimmte, dass die Seelen ihres Volkes - der Charanen also - fortan nicht mehr Yama überantwortet, sondern in Tieren wiedergeboren werden sollten. In Ratten.

Die Eingangstore des Tempels sind aus schwerem Holz und mit Eisenspitzen versehen, ein Relikt aus der Zeit, als die Streitereien der Mächtigen noch mit Kampfelefanten ausgetragen wurden. Ein Inder versperrt uns den Weg und deutet auf unsere Schuhe. "No shoes!", verlangt er in einem Ton, der keinen Widerspruch duldet. Wir schlucken. Natürlich wissen wir, dass man indische Tempel nicht mit Straßenschuhen betritt, und noch nie hat uns diese Bestimmung gestört, aber hier ... Wenigstens dürfen wir die Socken anbehalten, und auf denen betreten wir nun also den heiligen Boden. Wüssten wir nicht, worauf der schmierige Belag auf diesem Boden zurückgeht, so hätte uns dieser Umstand noch nicht einmal gestört - so aber rümpfen wir die Nase, krausen die Stirn, und als wir die ersten Verursacher der Schmiere erblicken, entfährt uns ein heiseres "Oh!". 20.000 Ratten soll es in diesem Tempel geben. 20.000 Seelen von fahrenden Sängern also, eine beachtliche Zahl. Zunächst sehen wir nicht mehr als einige Dutzend von ihnen, dann ein paar hundert, doch je weiter wir in dem Tempel kommen, desto intensiver wird der einschlägige Geruch, und desto weniger zweifeln wir an der Authentiziät der genannten Zahl. Angst vor Dezimierung brauchen die heiligen Tiere nicht zu haben. Nicht nur die Verehrung der Gläubigen ist ein Schutz für sie, auch die Gitter und der Maschendraht über den Höfen sind es, die die befiederten Feinde der Ratten von dem für sie überreichlich gedeckten Tisch abhalten.

 

Den Blick halb nach vorn und halb nach unten gerichtet, schreiten wir entschlossen durch das Rattenparadies. Überall sind die Tiere gegenwärtig. Manche klettern und springen, andere huschen umher oder sitzen auf Vorsprüngen und Geländern und knabbern Futter. Etliche haben sich um eine Schale mit Milch versammelt und schlecken und schlabbern mit einem Genuss, der uns beim Hinschauen zusehends den Magen umdreht. Aber noch haben wir nicht alles gesehen, noch wartet das Allerheiligste auf uns. Der Raum, in dem die tempelstiftende Karni Mata verehrt wird. Betreten dürfen wir ihn nicht, darauf macht uns ein Schild aufmerksam, aber das hatten wir ohnehin nicht vor. In diesen Raum hätte man uns hineinprügeln müssen. Ein Gläubiger verneigt sich tief vor Karni Mata und steckt dabei seine Nase in die Ausscheidungen der Tiere, ein anderer hockt neben ihm auf dem Boden und füttert sie. Hockt so entspannt, wie wir in gemütlicher Runde mit Freunden sitzen würden, ein Bier in der einen Hand und ein paar Knabberstangen in der anderen. Er aber hält weder Bier noch Knabberzeug, er schält Bananen und Äpfel, schneidet sie in kleine Stücke und legt sie in die vor ihm stehende Schale, aus der die heiligen Nager sich eifrig bedienen. Und während er das tut, laufen andere ihm über Arme und Beine, machen auch schon mal Männchen auf seinen Schultern oder laufen über seinen Schoß, eine Situation, bei der wir selbst bei vergleichbaren Tieren mit einem Steiff-Knopf im Ohr unsere Schwierigkeiten hätten. Einmal schaut uns der Mann an, völlig gleichgültig, er lässt sich nicht stören, denn an die neugierigen Fremden hat er sich längst gewöhnt. Jeden Tag fallen sie hier ein, jedenfalls bis 10 Uhr, danach ist Schluss, denn ab 10 Uhr gehört der Tempel allein den Gläubigen. Davor ist er ein Geschäft, und mitnichten ein schlechtes: 25 Rupies müssen wir für eine Fotoerlaubnis bezahlen, das ist mehr, als viele Inder an einem ganzen Tag mit harter Arbeit verdienen. Grusel gegen Geld - ein Deal, den nicht erst die Inder erfunden haben, der aber auch hier wieder zuverlässig funktioniert.

 

Zurück in Bikaner, führt uns unser erster Weg zum Müll, auf dem die Socken landen und der zweite unter die Dusche. Punkt drei ist ein kräftiger Schluck indischen Whiskys, mit dem wir den Rest unseres Erlebnisses herunterspülen. Er brennt wie Feuer, aber das ist gut so, denn auf diese Weise reinigt er uns bestimmt auch von innen. Einmal mehr haben wir die Erfahrung gemacht, dass es schon ein eigenartiges Land ist, dieses Indien!