Das Geschenk Ägypten.
Ohne den Nil hätte Cheops keine Pyramide gebaut. 1980
 
 
Ägypten ist ein Geschenk des Nils, habe ich in der Schule gelernt. Und als ich vom Flugzeug aus auf den Fluss hinabblicke, denke ich: Stimmt, genau so sieht es aus! Das Land unter mir ist gelb-braune Wüste in allen Schattierungen. Sanddünen wechseln mit Bergen, langgezogene Hügelketten mit ausgetrockneten Flussbetten, die aus der Höhe wie Adern aussehen. Dazwischen windet sich ein grün-blaues Band, das inmitten der Wüste wie ein Fremdkörper erscheint. Das Blaue ist der Nil, das Grün zu beiden Seiten das fruchtbare Land, das er hervorbringt. Das Geschenk Ägypten eben. Den Fluss in seiner gesamten Länge kann ich nicht überblicken. Ein Astronaut könnte das oder ich selbst mit Hilfe von Google Earth. Aber Google Earth gibt es im Jahr 1980 noch nicht, weshalb ich nach der Landung des Flugzeugs ganz traditionell zum Reiseführer greife, um mich zu informieren.
 
Fast 7.000 Kilometer misst der Nil, so lese ich, womit er der längste Fluss der Erde ist. Dass es zwei "Nile" gibt, weiß ich noch aus der Schule: den Blauen und den Weißen. Doch bei der Frage nach deren Quellen bin ich wieder auf meinen Reiseführer angewiesen. Eine äußerst angenehme Art der Wissensvermittlung allerdings, verglichen mit den Strapazen, die mutige Männer einst auf sich genommen haben, um diese Frage zu beantworten. In den Bergen Ruandas und Burundis entspringen die beiden Flüsse, lese ich, und bei Khartum im Sudan vereinigen sie sich zu dem Nil, den wir üblicherweise meinen, wenn wir den Namen benutzen. Aha!
 
"Nilschlamm" ist ein weiteres Wort, an das ich mich erinnere. Dabei handelt es sich um jenen fruchtbaren Schlamm, den der Nil in jedem Jahr mit sich führt, wenn er infolge kräftiger Regenfälle in seinem Oberlauf angeschwollen ist. Dann tritt er über die Ufer, überschwemmt die Felder, und wenn er sich wieder zurückzieht, hinterlässt er dort seinen Schlamm. Dünger, der das grüne Band erst ermöglicht, das ich vom Flugzeug aus gesehen habe. Die Breite des Bandes variiert, mal sind es nur ein oder zwei Kilometer, mitunter sind es zwanzig. Gleich im Anschluss daran beginnt die Wüste. Nicht mit einem allmählichen Übergang, nein, beinahe rasiermesserscharf. Nur noch Sand und Geröll hinter den letzten Pflanzen. Würde man dort Wasser hinbringen, geht es mir durch den Kopf, könnte an diesen Stellen vermutlich auch etwas wachsen. Kein sonderlich origineller Gedanke gewiss, denn zweifellos haben sich bereits Generationen von Ägyptern den Kopf über diese Frage zerbrochen. Doch wie weit sie den fruchtbaren Streifen auch ausdehnen würden - irgendwo wäre immer Schluss. Irgendwo begänne immer die Wüste.
 
An dieser Stelle ist eine Einschränkung angebracht: Was ich gerade über den Nil und über den Schlamm geschrieben habe, das galt in der Vergangenheit. Heute gilt es nicht mehr. Vor rund 50 Jahren hat man den Nil in der Gegend von Assuan aufgestaut und auf diese Weise den wilden Fluss domestiziert. Ziel des Projekts war es neben der Erzeugung von Strom, die regelmäßigen Überschwemmungen des Landes zu vermeiden, die zwar den nützlichen Schlamm mitgebracht, zugleich aber jedesmal beträchtliche Schäden angerichtet haben. Diese Ziele wurden erreicht, und insofern ist der Staudamm ein Segen für das Land. Gleichzeitig ist er ein Fluch, wird der fruchtbare Schlamm doch nun von der riesigen Staumauer zurückgehalten. Als Ersatz bringen die Bauern seither Kunstdünger auf die Felder, den sie teuer bezahlen müssen und der darüber hinaus ein neues Problem geschaffen hat: die Böden versalzen.
Von all dem bekommen die Touristen nichts mit, die auf dem Fluss unterwegs sind. Bereits 1980, zur Zeit meiner Reise, spielte der Tourismus auf dem Nil eine wichtige Rolle für Ägypten. Seither ist seine Bedeutung weiter gewachsen. Wo einst Kolossalstatuen und Obelisken zu ihren Standplätzen transportiert wurden, wo Forschungsreisende auf der Suche nach den Nilquellen unterwegs waren und später die wohlhabende amerikanische Lady Linnet Ridgeway ermordet wurde - zumindest in Agatha Christies Roman "Tod auf dem Nil" -, dort sind heute Herr und Frau Mustermann unterwegs: komfortabel untergebracht auf Schiffen mit Swimmingpool und Cocktailbar, verwöhnt mit ausgewählten Speisen und unterhalten von Bauchtänzerinnen und tanzenden Derwischen. An malerischen Dörfern geht die Reise vorbei und an Tempeln aus der Blütezeit der ägyptischen Kultur, die so gut erhalten sind, dass man nur staunen kann. Rund 1.000 Kilometer beträgt die Länge des Nils auf ägyptischem Gebiet, und auf manchen Strecken vermittelt er den Touristen das Gefühl, durch ein Museum zu fahren. Durch ein Museum, dass es ohne ihn nicht gäbe: weder die Pharaonen noch die Pyramiden und auch nicht die einbalsamierten Mumien oder die tierköpfigen Götter. Ägypten ist ein Geschenk des Nils - in der Tat!