Platz und Symbol:
der Times Square in New York. 2010
 
 
 
Was für ein Gefühl! Wir fahren mit dem Aufzug 56 Stockwerke nach unten, die Tür öffnet sich fast lautlos, ein livrierter Angestellter des Hotels grüßt freundlich, als wir an ihm vorbeigehen, wir treten auf die Straße, wenden uns nach rechts - und sind nach wenigen Schritten dort, wo die übliche Terminologie für eine Städtebeschreibung nicht mehr ausreicht. An diesem Ort ist alles anders, hier sind Superlative gefragt. Ist doch der Platz, auf den wir treten, selbst ein einziger Superlativ: der Times Square in Manhattan/New York.
 
Er ist das Herz der Stadt, und er ist einer der bekanntesten Plätze der Welt. Unzählige Male wurde über ihn geschrieben, Filmen und Romanen diente er als Hintergrund, und die Zahl der Fotos, die Besucher aus aller Welt von ihm gemacht haben, hat die Milliarde vermutlich längst überschritten. Der Times Square ist nicht nur ein Platz wie andere Plätze auf der Welt. Er ist mehr. Er steht für eine Kultur, für ein System, das von den einen geliebt und von den anderen gehasst wird. Er steht für alles, was die westliche Welt verkörpert oder erstrebt: Wohlstand, Dynamik, Erfolg. Wir gehören zu denen, die diesen Platz lieben. Zehn Tage haben wir an ihm gewohnt. 56 Stockwerke über ihm, an einer Stelle, wo man einen Ausschnitt von ihm fast noch vom Bett aus sehen konnte.
 
Wer den Platz das erste Mal betritt, erlebt einen Totalangriff auf die Sinne, der einer Überforderung gleichkommt. Denn welcher Mensch vermag das alles zu fassen - die grellbunten Lichtreklamen, die vielfarbigen Werbetafeln, von denen manche größer sind als ein vierstöckiges Haus, die riesigen Schriftbänder, die das Geschehen der Welt auf den Platz spülen, als sei des Geschehens hier noch nicht genug. Überall ist Bewegung, es leuchtet und funkelt, es glitzert und blitzt, und vieles davon in einer Schnelligkeit, die der Vor-MTV-Generation Schwindel verursacht. Dazu die Geräusche, weniger die des Verkehrs, als vielmehr der Menschenmassen, die sich Stunde um Stunde über den Platz schieben, Touristen aus aller Welt zumeist, denn ohne auf dem Times Square gewesen zu sein, war man nicht in New York. Rund 50 Millionen Besucher zählt die Stadt pro Jahr, und rund 50 Millionen  bevölkern diesen Platz. Vielen ist der Platz Ziel genug. Andere durchkämmen die Souvenirläden, trinken im Hard-Rock-Cafe ein Bier, stehen geduldig in der Schlange am TKTS-Counter auf der Suche nach verbilligten Musicaltickets oder durchstöbern den riesigen Spielzeugladen Toys"R"us auf der Suche nach einem Geschenk für die Kleinen. Und dann sind da noch die Theater. Was sie spielen, das spielt die Welt. Was eine solche sinnliche Überforderung bedeutet, das haben wir selbst erlebt, als wir erst am letzten Tag unseres Aufenthaltes den Starbucks Store direkt gegenüber von unserem Hotel entdeckten. Nein, der Times Square erlaubt keine schnelle Bestandsaufnahme. Man tritt nicht auf ihn und kennt ihn. Er gleicht einem riesigen Puzzle, das sich erst allmählich zu einem Bild fügt.
 
Betrachtet man die Form des Times Square - lang und schmal -, so ist er nicht das, was wir für gewöhnlich unter einem Platz verstehen. Was daran liegt, dass er eigentlich nicht mehr ist als ein Schnittpunkt zweier Straßen. Wirft man einen Blick auf den Stadtplan von Manhattan, so fällt das Schachbrettmuster auf, nach dem die Straßen angelegt sind. Entweder Nord-Süd (das sind die Avenues) oder Ost-West (das sind die Streets) - mit einer Ausnahme, dem Broadway. Rund 20 Kilometer lang, durchschneidet er dieses Raster, und dort, wo er die 7th Avenue quert, zwischen der 42. und der 47. Straße, dort liegt der Times Square. Als Schnittpunkt dieser beiden wichtigen Straßen war er die längste Zeit ein Zentrum des New Yorker Verkehrs, durch das sich Tag und Nacht endlose Autokolonnen quälten. Erst seit kurzem ist das anders. Im Sommer 2009 wurde der größte Teil des Times Square in eine Fußgängerzone umgewandelt. Nur auf der 7th Avenue rollt noch der Verkehr, der Rest des Platzes und damit dieser Abschnitt des Broadway gehören seither den Flaneuren.
 
Es war ein Wandel, den Bürgermeister Bloomberg den New Yorkern verordnet hatte und von dem längst nicht alle begeistert waren. Ganz anders, als von einem Wandel etliche Jahre zuvor: In den 70er Jahren war der Platz eine heruntergekommene Gegend mit miesen Hotels, schmuddeligen Sexkinos und billigen Imbissläden, ein Tummelplatz von Taschendieben, Drogendealern und Prostituierten. Überfalle und Schlägereien waren an der Tagesordnung. Damals hat die Stadtverwaltung das Ruder herumgerissen und mit ihrer Zero-Tolerance-Policy (Nulltoleranzstrategie) den Times Square (und New York allgemein) zu dem gemacht, was er heute ist: ein Ort, an dem wir uns sicherer gefühlt haben als an vielen anderen Orten der Welt. Was nicht heißt, dass er sicher wäre. Nur ist die Bedrohung, der sich die Besucher heute ausgesetzt sehen, eine andere. Was den Times Square so besonders macht, Symbol für die westliche Lebensart zu sein, das macht ihn auf der anderen Seite auch so verletzlich. Spätestens seit dem 11. September 2001 steht der Times Square im Fadenkreuz des internationalen Terrorismus. Den politisch Verantwortlichen ist das bewusst, und sie reagieren darauf mit einer Polizeipräsenz, wie wir sie noch nirgends erlebt haben. Was uns indes nicht gestört hat, wussten wir doch, warum die vielen Uniformierten da waren. Dass sie das Schreckliche nicht gänzlich verhindern können, zeigte ein Ereignis nur wenige Tage nach unserer Abreise - der Sprengsatz in einem abgestellten Auto, der nur deshalb nicht explodierte, weil ein aufmerksamer Straßenhändler ihn rechtzeitig entdeckte.
 
Wir hatten die Hälfte unseres Aufenthalts gerade hinter uns, als eine andere Meldung um die Welt ging: die von dem isländischen Vulkan, der den Flugverkehr über Europa fast gänzlich zum Erliegen gebracht hatte. Auch in New York saßen Passagiere fest, die in die Alte Welt wollten. Wir erfuhren die Nachricht von den Schriftbändern auf dem Times Square. Wir lasen sie, blickten uns fragend an, sahen das pralle Leben um uns herum, spürten den Puls dieses Platzes, von dem wir während unseres Aufenthaltes ein winziger Teil geworden waren, und noch im selben Moment wussten wir die Antwort auf unsere Frage: Na und!