Das göttliche Dickerchen.
Ganesha ist der beliebteste Gott der Hindus.
Nepal 1987
 
 
Der Shiva-Parvati-Tempel nahe dem alten Königspalast in Kathmandu ist mein Stammplatz, wenn ich in der Stadt bin. Jedesmal sitze ich hier und beobachte das Treiben auf dem Platz vor dem Tempel, und immer gibt es etwas zu sehen - Frauen in farbenfrohen Saris, Männer, die riesige Körbe mit schweren Lasten tragen, heilige Kühe auf der Suche nach Essbarem, Touristengruppen hinter Führern, die Schirme in die Höhe halten. Als ich im September 1987 hier bin, setzt sich Bahadur neben mich. Ich schätze sein Alter auf etwa 20 Jahre. Er ist schlank, gut gekleidet, was gehobenen Lebensstandard signalisiert, und hat ein intelligentes Gesicht. Bahadur spricht Englisch, und so kommen wir schnell ins Gespräch.
Nach zehn Minuten sind wir bei Ganesha angelangt. Ich kenne Ganesha. Natürlich kenne ich ihn. Wer in Asien unterwegs ist, kommt an ihm nicht vorbei. Ganesha ist der Sohn von Shiva - einem der drei obersten Hindugötter - und dessen Gattin Parvati, also jener beiden Götter, auf deren Tempelstufen wir gerade sitzen. Ganesha ist ebenfalls ein Gott, allerdings ein besonders auffälliger, ja man könnte ihn wohl zu Recht als den auffälligsten Bewohner des hinduistischen Götterhimmels bezeichnen: ein dicker Bauch, um den er eine Schlange gewickelt hat; der Kopf eines Elefanten; neben oder unter ihm sein Reittier, einen  eine Ratte (ja, Sie haben richtig gelesen: eine kleine Ratte für den dicken Ganesha!) sowie eine Schale voller Süßigkeiten, seine Lieblingsspeise.
Die Ratte, das Reittier Ganeshas.
 
 
Jedem ordentlichen Christen dürften bei der Vorstellung eines solchen Gottes die Haare zu Berge stehen, jedem rechtgläubigen Moslem ebenso. Bei einem Hindu hingegen würden solche Bedenken auf völliges Unverständnis stoßen. Hindus haben Ganesha mit der Muttermilch eingesogen. Ob in Nepal, in Indien oder auf Sri Lanka - Ganesha ist allgegenwärtig, sowohl in Tempeln als auch in kleinen Schreinen, als Bild und als Statue in jedweder Form und Größe. Bei Gottesdiensten gilt ihm das erste Gebet, vor jeder größeren Unternehmung wird er um Beistand angerufen, er gilt als Hüter der Wissenschaften, und bis heute stellen sich die meisten Kaufleute unter seinen Schutz.
 
(Fotos aus Nepal, Südindien, Rajasthan, Sri Lanka)
 
Ob ich wisse, fragt mich Bahadur, woher der Gott seinen Elefantenkopf habe. Ich versuche, mich an das einschlägige Kapitel in meinem Reiseführer zu erinnern, aber Bahadur ist schneller. Er fängt an zu erzählen. Die Geschichte beginnt mit göttlichem Voyeurismus. Shivas Gattin Parvati, berichtet Bahadur, erfreute sich des öfteren im Bade, bei dem ihr Gemahl sie heimlich zu beobachten pflegte. Der Göttin gefiel das nicht, und sie sann auf Abhilfe.
Sie nahm einen Klumpen Lehm, formte einen kleinen Jungen daraus, erweckte ihn mit Gangeswasser zum Leben, und nachdem sie ihm noch einen Namen gegeben hatte - Ganesha -, setzte sie ihn als Wächter vor ihr Badehaus. Als Shiva sie das nächste Mal beobachten wollte, versperrte ihm der Kleine tapfer den Weg. Shiva wurde wütend und schlug ihm im Zorn den Kopf ab. Als Parvati das sah, befiel sie eine große Traurigkeit. Schließlich bereute Shiva seine Tat, und er versprach Parvati, ihrem Sohn den Kopf des ersten Wesens aufzusetzen, das auftauchen würde. Wenig später erschien ein Elefant. An sein Versprechen gebunden, trennte Shiva diesem den Kopf ab und setzte ihn Ganesha auf, der seither mit einem Elefantenkopf durchs Leben geht.
"Eine hübsche Geschichte", bemerke ich. "Aber warum hat er solch einen dicken Körper?" - "Süßigkeiten", erklärt Bahadur. "Vor allem die süßen Reisbällchen isst er für sein Leben gern, Modaka heißen sie bei uns. Sie sind seine Lieblingsspeise." Ich hake nach: "Und nur von diesen Reisbällchen ist er so dick?" - "Alles eine Frage der Menge", sagt Bahadur schmunzelnd und nickt zur Bekräftigung seiner Worte mit dem Kopf. Ganesha, so fährt er fort, habe ganze Berge von Modaka in sich hineingestopft, immer mehr und mehr, bis er eines Tages mit einem lauten Knall geplatzt sei. Nachdem er sich von seinem Schreck erholt hatte, stopfte er die Reisbällchen in seinen Magen zurück, nahm eine Schlange von der Erde auf und band sie um seinen Bauch. Als der Mond das sah, begann er schallend zu lachen. Was Ganesha sehr ärgerte.
Er riss einen seiner beiden Stoßzähne aus und schleuderte ihn gegen den Mond. Und dazu, fuhr Bahadur fort, verfluchte er ihn mit den Worten "Nie wieder sollst du scheinen!" Von dieser Stunde an waren die Nächte so dunkel, dass die Menschen sich fürchteten; die Liebespaare beschwerten sich, weil es keinen romantischen Mondschein mehr gab; und auch die Götter fanden die Situation unerträglich. Deshalb machten sie sich auf den Weg zu Ganesha und baten ihn um Abhilfe. Ganesha zeigte sich zugänglich, verlangte aber, dass der Mond als Strafe für sein höhnisches Gelächter nicht mehr die ganze Zeit über in voller Pracht scheinen dürfe, sondern seine Gestalt regelmäßig verändern müsse. "Seither", so schließt Bahadur seine Erzählung, "gibt es abnehmenden und zunehmenden Mond."
"Ebenfalls eine nette Geschichte", sage ich lächelnd. Bahadur bemerkt die Skepsis in meiner Stimme. "Ich weiß", sagt er, "für euch sind das Kindermärchen. Reine Fantasie, denkt ihr. Aber habt ihr nicht ähnliche Geschichten? Von eurem Gott, wie er Tote erweckt? Oder von dem Priester, der mit seinem Stock ein ganzes Meer geteilt hat?" Ich suche einen Moment zu lange nach einer Antwort, und Bahadur bemerkt es. Jetzt ist das Lächeln an ihm. "Möchtest du noch ein paar Geschichten von Ganesha hören?" fragt er mich. Ich nicke, und sogleich beginnt Bahadur zu erzählen.